9 Stunden Angst
Bahnsteigbeleuchtung sein Gesicht erfasste, wusste Varick, dass er Tommy Denning vor sich hatte. Als Bruder Thomas mochte er ihn nicht mehr bezeichnen, nicht einmal in Gedanken. Dieser Mann war nicht sein Bruder.
Der Zug blieb stehen, und aus den Bahnsteiglautsprechern hallte die automatische Ansage: »Northern-Line-Zug nach Mill Hill East. Bitte zuerst aussteigen lassen.« Varick hatte sich absichtlich in der Mitte des Bahnsteigs platziert, damit er den Zug möglichst weit von seinen beiden Enden entfernt besteigen konnte. Aus dem Notizbuch wusste er, dass dort Tommy und sein Team postiert waren.
Beim Betreten des Waggons hatte er das eigenartige Gefühl, dass das Schicksal von nun an seinen unaufhaltsamen Lauf nehmen würde. Er mochte inzwischen ein Mann Gottes sein, aber er wusste immer noch, wie man mit einem Revolver umging, besonders mit dem, den er unter seinem Hemd im Gürtel trug. Er hatte Tausende von Schießübungen damit absolviert und kannte alle seine kleinen Eigenheiten. Die Kugeln hatten einen leichten Rechtsdrall, und er wusste genau, wie weit er nach links zielen musste, um ihn zu kompensieren. Die Smith & Wesson war der einzige Gegenstand, den er aus seiner Vergangenheit in Louisiana behalten hatte, aus der Zeit vor seiner Wiedergeburt. Den Revolver nach Großbritannien zu schmuggeln, war ganz leicht gewesen: Er hatte ihn zerlegt und die Einzelteile in der Kiste mit seinem Eigentum verteilt, die er vorausgeschickt hatte. Er war nicht der einzige Schusswaffenliebhaber auf Madoc Farm. Fast alle Mitglieder von Cruor Christi besaßen Waffen, von denen einige schon nicht mehr als Handfeuerwaffen durchgingen. Im Arsenal von Madoc Farm – Pater Owen bestand darauf, dass alle Waffen in einem abschließbaren Raum aufbewahrt wurden –, gab es halbautomatische Sturmgewehre, von denen die meisten inzwischen in Tommys Besitz waren, und sogar eine kleine Menge Plastiksprengstoff. Ein Mitglied von Cruor Christi, »Big Bob« Wilcox, war während seiner Zeit beim Militär für Geschütze und Sprengstoff zuständig gewesen, und es war ihm gelungen, den Plastiksprengstoff aus seinem früheren Waffendepot »zu befreien«, wie er es nannte. Die vielen Waffen auf dem Farmgelände hatten Varick von Anfang an beunruhigt, aber er war irgendwann zu dem Schluss gelangt, dass nun einmal viele Mitglieder dieser etwas speziellen Glaubensgemeinschaft unter Paranoia litten. Wenn sie sich mit ihren Waffen sicherer fühlten und verantwortungsbewusst damit umgingen, hatte er nichts dagegen, zumal es ihm mit seiner Vergangenheit und seiner festen Überzeugung, dass jeder das Recht auf Waffenbesitz haben sollte, wohl kaum zustand, große Reden zu schwingen.
Nachdem er Owen in der Nacht tot aufgefunden hatte, hatte Varick das Arsenal kontrolliert und beinahe leer vorgefunden. Die wenigen Waffen, die Tommy nicht mitgenommen hatte, hatte er durch Entfernung der Schlagbolzen unbenutzbar gemacht. Offenbar hatte er vorhergesehen, dass Varick ihn verfolgen würde. Aber Varick trug seinen Smith-&-Wesson-Revolver immer bei sich, und mehr brauchte er nicht. Er wusste, dass er es durchziehen würde: Wenn er erst einmal auf Schussweite an Tommy Denning herangekommen war, war dieser ein toter Mann.
08.54 Uhr
Zug Nummer 037 der Northern Line, Fahrerkabine
George musste etwas unternehmen. Nicht nur für seine Familie und Hunderte von Insassen seines Zuges, sondern auch für sich selbst. Wenn er starb, ohne etwas unternommen zu haben, wäre sein ganzes Leben umsonst gewesen, zumindest empfand er das so. Dabei war er nicht einmal religiös. Wenn man ihn zu einem Bekenntnis gedrängt hätte, hätte er sich als Agnostiker bezeichnet. Für manche Leute war das eine Drückebergerantwort – wenn man schon die Existenz Gottes leugnete, musste man doch wenigstens den Mut aufbringen, sich Atheist zu nennen! Nach deren Ansicht besaßen Agnostiker kein Rückgrat, waren weder Fisch noch Fleisch. Normalerweise waren es religiöse Menschen, die einem so etwas vorwarfen. Für George war der Agnostizismus trotzdem die einzig logische Antwort: Er wusste schlicht nicht, ob es einen Gott gab. Er wusste es nicht, weil es niemand wissen konnte. Manche Dinge waren nun mal nicht beweisbar. Andererseits hatte er sich noch nie besonders viele Gedanken über das Thema gemacht. Maggie und er hatten dennoch kirchlich geheiratet, und die Kinder waren getauft. Falls es einen Gott gab, waren sie damit auf der sicheren Seite, so als hätten sie eine Versicherung
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