9 Stunden Angst
sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Früher, auf dem College, hatte er eine Zeitlang mit LSD experimentiert. Damals waren ihm Gegenstände, die er schon Tausende Male in der Hand gehalten hatte, plötzlich neu und aufregend vorgekommen, genau wie jetzt. Wenn er hingegen den Entführer ansah, war er sicher, dass dessen Gesicht schon immer in seinem Unterbewusstsein gelauert hatte. Wie ein böser Geist, der plötzlich zum Leben erwachte.
Beim Verlassen von Leicester Square führte der Zug etwas mehr als die Hälfte seiner Fahrgastkapazität mit sich. Sie waren noch nicht weit von der Station entfernt, als Pilgrim Anweisung gab, langsamer zu fahren. George gehorchte widerstandslos. Jetzt war keine Zeit für Heldentaten. Er musste den richtigen Moment abwarten.
»Langsamer … noch langsamer …«
Der Zug verlangsamte sich auf Schrittgeschwindigkeit. Der Mann neben George war wachsam, seine türkisblauen Augen schossen von links nach rechts. Es war, als würde er etwas suchen.
»Okay, jetzt ganz langsam. Genau so, George, wunderbar. Und jetzt … anhalten.«
George hielt an, ließ den Gashebel aus Gewohnheit aber im Leerlauf.
»Nehmen Sie die Hand vom Hebel«, befahl Pilgrim.
»Aber der Gashebel ist mit einer Totmanneinrichtung ausgestattet. Wenn ich loslasse, geht der Alarm los«, protestierte George.
»Das ist schon in Ordnung.«
George ließ den Hebel los, und sie starrten beide nach vorn in den Tunnel, während der Motor weiter vor sich hin brummte. Die Stimme des Liniendisponenten drang krächzend aus der Funkanlage: »Null drei sieben, gibt es ein Problem? Sie scheinen auf freier Strecke angehalten zu haben. Null drei sieben? Hallo? Gibt es Probleme bei Ihnen?«
Was hätte Joe Strummer jetzt getan?
Pilgrim sah George an und lächelte. »So«, sagte er. »Da wären wir. Dieser Zug endet hier.«
08.56 Uhr
Zug 037 der Northern Line, hinterster Waggon
Als der Zug im Tunnel zwischen den Stationen Leicester Square und Tottenham Court Road zum Stehen kam, wusste Simeon, dass Teil eins von Tommy Dennings Vorhaben erfolgreich abgeschlossen war. Sie waren zwar eine Woche zu früh dran, aber alles andere verlief haargenau nach Plan. Auf seiner Uhr war es jetzt vier Minuten vor neun. Tommy hatte prophezeit, dass sie ihr Ziel gegen neun erreichen würden. Im Fahrgastbereich jenseits der Waggontür saß die Frau des Zugführers. Sie hatten lange darüber diskutiert, ob sie mit an Bord sollte oder nicht. Belle hatte argumentiert, dass die Frau zur Belastung werden könnte, doch Tommy fand, dass es sich lohnte, sie mitzunehmen, für den Fall, dass der Fahrer seelischen Beistand brauchte oder sie erneut psychischen Druck auf ihn ausüben mussten. Dann konnten sie die Frau per Walkie-Talkie mit ihm reden lassen. Simeon hatte versprochen, sie im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass sie keinen Ärger machte. Eingeschüchtert hatte er sie mit der Drohung, dass ihre Kinder sterben würden, wenn sie Alarm schlug oder andere Fahrgäste ansprach. Darüber, dass die Kinder nicht mit an Bord sollten, waren sich alle einig gewesen. Das war zwar hart für die Mutter, aber der dadurch erzeugte Schock und die Panik würden dafür sorgen, dass sie bedingungslos kooperierte. Ein Blick in ihre Augen genügte, um zu wissen, dass sie alles dafür tun würde, ihre Kinder lebend wiederzusehen. Das musste man Tommy lassen: Sein Plan war brillant – böse, aber brillant. Es gab nur eine Schwachstelle, und das war er, Simeon. Ohne ihn wäre es Tommy und Belle vielleicht tatsächlich gelungen, ihr Vorhaben durchzuziehen. Doch er war hier, um genau das zu verhindern. Die Kinder würden überleben, denn er würde sie so bald wie möglich befreien. Zuerst musste er jedoch den Lauf der Dinge abwarten und zulassen, dass Tommy Kontakt zur Außenwelt aufnahm und ihr seine Absichten verkündete. Sobald er das getan hatte, konnte Simeon wie geplant vorgehen und die viele harte Arbeit der letzten Wochen und Monate zu einem erfolgreichen Ende bringen. Ein Gutes hatte die durchlittene Zeit immerhin: dass er Belle kennengelernt hatte.
Sie saß neben ihm im Schlusswagen des Zuges, so schön und doch so verdorben. Trotz ihrer extremen, beinahe geisteskranken Überzeugungen, die sie mit ihrem Bruder Tommy teilte, fühlte sich Simeon unwiderstehlich zu ihr hingezogen. Ihr geschmeidiger, biegsamer Körper sprühte nur so vor Energie. Selbst jetzt, wo sie zusammen im letzten Waggon des Zuges saßen und darauf warteten, einen teuflischen Plan in die
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