9 Stunden Angst
klingeln hören. Der Geiselnehmer nahm ab, und Ed fing an zu reden: »Die Erfüllung Ihrer Forderung erweist sich als schwierig. Ich tue mein Bestes, aber Sie werden mir mehr Zeit geben müssen.«
Ed war auf Einwände vorbereitet, doch die Reaktion der Zielperson überraschte ihn: »Alles klar, Kumpel, kein Problem. Dann wissen wir jetzt wenigstens, woran wir sind.« Der Mann klang gelassen, beinahe fröhlich. Ed spürte, wie Zuversicht in ihm aufstieg, bis ihm klar wurde, dass die Zielperson ihn gerade ohne konkreten Anlass beschwichtigt hatte, ein typisches Verhalten von Selbstmördern, deren Entschluss, sich das Leben zu nehmen, unwiderruflich feststeht. Ed wusste, dass er sofort handeln musste. Fieberhaft suchte er nach einem neuen Verhandlungsweg, den er einschlagen konnte. Er sollte keine Gelegenheit mehr dazu bekommen.
Hinterher stellte sich heraus, dass die Zielperson fünfzehn Jahre lang im Maze-Gefängnis eingesessen hatte und unter keinen Umständen dorthin zurückwollte. Vom Knall der Explosion, der durch den Telefonhörer an sein Ohr drang, hatte Ed zwei Wochen lang Tinnitus.
Aber seine Ohren waren das kleinste Problem. Er hatte nicht mit der enormen Wucht der Druckwelle gerechnet. Lediglich zwei dünne Fensterscheiben trennten ihn von der explodierenden Handgranate, und eine davon befand sich nur Zentimeter von seinem Kopf entfernt. Die Narben im Gesicht würden ihn ein Leben lang zeichnen, doch genau wie sein Tinnitus waren sie nebensächlich verglichen mit den Primärschäden, die die Druckwelle anrichtete: Glassplitter bohrten sich in das orbitale Gewebe beider Augen, und sein linkes Auge erlitt einen Vorfall der Iris. Beide Augen trugen multiple Hornhautperforationen davon.
Die Platzwunden im Gesicht heilten. Sein Umfeld behauptete, dass die Narben gar nicht so schlimm seien, also waren sie vermutlich noch viel schlimmer. Er würde es nie erfahren. Laut Aussage der Ärzte, die die Untersuchungen durchführten, behielt sein linkes Auge rund dreißig Prozent Lichtempfindlichkeit. Er konnte also Schatten wahrnehmen, sonst jedoch nicht viel. Sein rechtes Auge hingegen war so schwer beschädigt, dass die Ärzte zunächst fürchteten, es komplett entfernen zu müssen. Am Ende blieb es, wo es war, auch wenn es keinerlei Funktion mehr ausübte.
Die Explosion der Handgranate tötete die Zielperson und Conor Joyces Frau mitsamt ihrem ungeborenen Kind. Conor Joyce überlebte schwer verletzt. Er war trotz der starken Schmerzen bei Bewusstsein, als er aus dem Gebäude getragen wurde.
»Ihr Arschlöcher habt zugelassen, dass sie stirbt!«, schrie er immer wieder, während er in den Krankenwagen geladen wurde. Direkt daneben stand ein zweiter Wagen, in dem die Notärzte Ed versorgten. In gewisser Weise hatte Joyce recht. Vielleicht war der Tod seiner Frau tatsächlich Eds Schuld. Noch Jahre nach dem Vorfall machte er sich Vorwürfe. Sie war der erste Mensch, den er während einer Verhandlung verlor. Später folgten weitere, sowohl Geiseln als auch Zielpersonen. Im Laufe seiner Karriere war Ed in über fünfundvierzig Krisensituationen auf der ganzen Welt involviert, von den Vereinigten Staaten bis zum Nahen Osten, in dreiundvierzig davon als Blinder. Rein statistisch gesehen musste es dabei irgendwann zu Verlusten kommen, und Ed lernte zu akzeptieren, dass er keine Verantwortung für das Verhalten einer fremden Person übernehmen konnte. Letztendlich machen die Leute, was sie wollen, und selbst wenn man mit einem intuitiven Verständnis dafür gesegnet ist, wie Menschen in Krisensituationen reagieren, gelingt es einem nicht immer, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Ed lernte, damit umzugehen, dass während seiner Verhandlungen Zielpersonen oder Geiseln ums Leben kamen. Er kam selbst damit zurecht, dass er manchmal nach stunden- oder sogar tagelangen intensiven Verhandlungen endlich das Gefühl hatte, zur jeweiligen Zielperson durchzudringen, nur um dann miterleben zu müssen, wie sie sich und andere in den Tod riss. Einzig der Tod von Conor Joyces Frau ließ ihn nie wieder los, fiel er doch genau mit dem Zeitpunkt seiner Erblindung zusammen. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu ihr zurück. Er hatte sie im Stich gelassen, und sich selbst ebenfalls. Er war zu übermütig und selbstsicher gewesen, zu bemüht, seine Vorgesetzten zu beeindrucken. Wenn er der Zielperson doch nur früher das Wort abgeschnitten hätte, wenn er sie geschickter hingehalten hätte, wenn er sie intensiver ermutigt hätte, sich zu
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