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9 Stunden Angst

9 Stunden Angst

Titel: 9 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Kinnings
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Geschichten zunächst sehr altmodisch vorgekommen. Außerdem waren sie in einer dichten, beinahe undurchdringlichen Prosa geschrieben, durch die man sich regelrecht hindurchkämpfen musste. Er wollte die Lektüre schon abbrechen und etwas anderes lesen, als er auf eine Geschichte mit dem Titel »Das vorzeitige Begräbnis« stieß. Je tiefer er in die packende Erzählung eintauchte, desto größer wurde sein Unbehagen. Lebendig begraben zu sein und mit jedem verzweifelten Kratzen am hölzernen Sargdeckel größere Gewissheit darüber zu erlangen, dass es kein Entkommen gibt, war eine Vorstellung, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Er bemühte sich, sie zu verdrängen, aber sie schlich sich immer wieder in seine Gedanken, bis irgendwann eine handfeste Klaustrophobie daraus entstanden war. Wie alle Phobien hielt sie sich an keinerlei Logik. Solange George in Bewegung war, hatte er kein Problem damit, sich in engen Räumen aufzuhalten – nur so war es ihm überhaupt möglich, als U-Bahn-Fahrer zu arbeiten –, doch sobald er irgendwo unbeweglich festsaß, überkamen ihn Schwindel, ein trockener Mund, Angstschweiß und Atemnot. Nur erneute Bewegung oder eine Flucht aus der Enge ersparten ihm eine Panikattacke, von der er nicht wusste, wie stark sie ausfallen würde, da es ihm bisher immer gelungen war, sie zu verhindern.
    Er hatte im Internet nach Heilungsmöglichkeiten gesucht und war auf eine Website gestoßen, die positives Denken als bestes Gegenmittel pries. Grundlage dieses Lösungsansatzes war, dass Klaustrophobiker nicht die Situation an sich fürchten, sondern die Symptome, die sie in der Folge entwickeln. Um ihnen entgegenzuwirken, konnte eine Form der Selbsthypnose förderlich sein, bei der das Bewusstsein mit tröstenden, »neutralen« Bildern aufgeladen wurde. Dazu sollte man sich immer wieder einreden: »Alles wird gut.« Er hatte die Methode ausprobiert, als er das nächste Mal besonders lange an einem Haltesignal warten musste, und sie hatte funktioniert. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. Aber in Georges jetziger Situation war an »Alles wird gut« nicht zu denken. Obwohl er bisher vermieden hatte, den Blick zu senken, wusste er, dass zu seinen Füßen ein Mann lag, dessen Gehirn auf dem Kabinenboden verteilt war. Er konnte das Blut riechen. Gar nichts würde gut werden, das stand fest. Nicht dieses Mal.
    Es war so heiß in der Fahrerkabine, dass sich schlecht sagen ließ, ob George mehr schwitzte als sonst. Er spürte, wie sein Herz in seiner Brust pochte, und sein Mund fühlte sich ledrig und trocken an. Am schlimmsten aber war die Atemnot.
    »Ich habe Klaustrophobie«, platzte er plötzlich heraus. Es war das erste Mal, dass er es so unverblümt aussprach. Maggie wusste natürlich, dass er sich in der Enge der Tunnels manchmal unwohl fühlte. Allerdings hatten sie schon eine ganze Weile nicht mehr darüber geredet. Unter normalen Umständen hatte er seine Phobie ja auch im Griff, aber das hier waren keine normalen Umstände. Offenbar sah sich sein Unterbewusstsein veranlasst, die Karten auf den Tisch zu legen.
    Pilgrim blickte ihn an und grinste. »Sie machen Witze.«
    »Nein. Ich wünschte, es wäre so.«
    »Davon haben Sie im Internetforum nie etwas geschrieben.«
    »Es gibt einiges, was ich Ihnen nicht geschrieben habe.«
    »Aber auch eine ganze Menge, was Sie mir anvertraut haben, George.«
    Beim Gedanken daran, wie viele Informationen er unbedacht herausgegeben hatte, zuckte George innerlich zusammen. Der wissbegierige junge Mann hatte ihm geschmeichelt, hatte sein Ego gestreichelt, und er war darauf hereingefallen. George erinnerte sich fast Wort für Wort an seine freimütigen Antworten. Er hatte zum Beispiel geschrieben, dass er für seine Kinder alles tun würde. Pilgrims Geständnis, er habe eine schwierige Kindheit erlebt, hatte den E-Mail-Austausch der beiden Männer noch persönlicher und vertrauter gemacht. George hatte die Rolle des tröstenden älteren Bruders eingenommen, und das hatte er jetzt davon. Pilgrim hatte ihn eiskalt benutzt und an der Nase herumgeführt.
    »Sie sind also U-Bahn-Fahrer und leiden an Klaustrophobie?«, wiederholte Pilgrim ungläubig.
    »Ja. Solange der Zug in Bewegung ist, ist alles in Ordnung. Ein paar Minuten Stillstand halte ich aus, aber wenn es länger dauert …« So heftig die Worte aus George hervorgesprudelt waren, so abrupt versiegten sie nun wieder. Wenn er ehrlich war, wusste er selbst nicht, was passierte, wenn der Stillstand länger

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