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9 Stunden Angst

9 Stunden Angst

Titel: 9 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Kinnings
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länger ein Sünder sein, und Gottes Liebe wird für jetzt und immerdar in Ihrem Herzen wohnen.«
    09.16 Uhr
    Zug Nummer 037 der Northern Line, sechster Waggon
    Maggie Wakeham saß am hinteren Ende des Waggons, mit dem Rücken zur Tür, die den Fahrgastbereich vom Schlusswagen trennte. Die Hände hatte sie unter die Oberschenkel geschoben, und ihr Blick war fest auf den Boden gerichtet. Die Übelkeit verschwand einfach nicht, sie war wie eine Welle, die sich immer höher auftürmte. Maggie fühlte sich, als wäre ein Stück von ihr amputiert worden, ohne Betäubung und ohne Rücksicht darauf, ob es ihr gutging und sie die Amputation überlebte. Ihre Kinder waren weg; man hatte ihr das Wertvollste genommen, was sie besaß. Das war sogar noch schlimmer als eine Amputation, man hatte ihr Innerstes herausgerissen und es vor ihren Augen verbrannt. Sie hatte noch nicht gefrühstückt gehabt, als die Entführer kamen, daher gab es nichts, was sie erbrechen konnte. Auch so hätte sie vermutlich kein Würgen zustande gebracht: Ihre Zähne waren so fest aufeinandergebissen, dass ihr der Kiefer wehtat.
    Sie hatten am nächsten Abend zu Mr. Pieces gewollt, um Bens sechsten Geburtstag zu feiern. Vor genau sechs Jahren hatte sie mit ihm in den Wehen gelegen, eineinhalb Tage lang. Wenn jemand sie darauf ansprach, gestand sie ehrlich, wie furchtbar das alles gewesen sei, aber das Ergebnis war jede Qual wert. Ben war ein wunderschönes Baby, und seine Geburt veränderte ihr Leben für immer, genau wie ihre Beziehung zu George. Sie wurde nicht etwa schlechter – falls man eine Ehe überhaupt mit dem Prädikat gut oder schlecht bewerten konnte –, nur anders. Belasteter, weniger zärtlich. Manchmal wünschte sie sich, dass er einfach die Initiative ergriff, sie in seine Arme riss und sich von Leidenschaft überwältigen ließ. Aber vielleicht spürte er ja gar keine Leidenschaft mehr für sie. Vielleicht war sie für immer erloschen. Hoffentlich nicht. Sie liebte George noch immer.
    Auch im Vorjahr waren sie an Bens fünftem Geburtstag zu Mr. Pieces gegangen. Mr. Pieces war ein ganz normales italienisches Restaurant, jedoch besonders nett und gemütlich, ein Familienbetrieb. Bevor die Kellner – vier italienische Brüder – feierlich »Happy Birthday« anstimmten, warfen sie ihre Metalltabletts auf den Boden, was wie ein Gewitter in einem Zeichentrickfilm klang. In der Mitte jedes Tisches stand ein kleiner Zinneimer mit Buntstiften, und die Papiertischdecken waren dazu da, von den kleineren Restaurantgästen vollgemalt zu werden. Jede Woche wählten die Kellner die schönste Tischdecke aus und hängten sie, nachdem sie sie von Speiseresten befreit hatten, an die Wand.
    In Maggies Waggon hielt sich auch eine Gruppe Schulmädchen auf. Sie waren etwa sieben Jahre alt – ein bisschen älter als Ben – und mit rosa Kleidern und Strohhüten ausstaffiert. Die begleitenden Lehrerinnen bemühten sich nach Kräften, ihre Schützlinge zu beruhigen. Inmitten der Schülerinnen saß ein blinder Mann, der einen Leinenanzug trug. Ein paar der Mädchen streichelten seinen Blindenhund. Direkt gegenüber von Maggie saß eine Frau mit schwarzen Haaren und schwarzer Sonnenbrille, deren modisches, ebenfalls ganz in Schwarz gehaltenes Outfit einen teuren Eindruck machte. Ihre Haut war blass, den einzigen Farbtupfer bildete der rote Lippenstift. Die Frau war sichtlich nervös und atmete immer wieder tief ein und dann sehr bewusst durch die Lippen wieder aus, als führte sie eine Atemübung durch. Maggie hatte mitbekommen, dass sie aus New York stammte. Als der Zug überirdisch in Morden gestartet war, hatte sie mit dem Handy telefoniert und ihrem Gesprächspartner erzählt, dass sie zu spät zu einem Meeting kam. Maggie hatte kurzzeitig darüber nachgedacht, ihr das Handy zu entreißen und der Person am anderen Ende der Leitung mitzuteilen, dass sie entführt worden sei und sich in einer U-Bahn Richtung Stadtmitte befinde. Aber sie hatte es natürlich nicht getan. Sie hätte niemals etwas getan, was ihre Kinder gefährdete.
    Neben der schlanken New Yorkerin saß ein etwa fünfzigjähriger Mann in langer Hose und Sportsakko. Obwohl er bemüht war, so auszusehen, als sei er unterwegs zum Golfklub, verrieten die Aktentasche und das Wirtschaftsmagazin auf seinem Schoß, dass ein ganz normaler Bürotag auf ihn wartete. Der lange Aufenthalt im Tunnel schien ihn zu beunruhigen, denn er tupfte sich immer wieder mit einem weißen Taschentuch die verschwitzte

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