9 Stunden Angst
ganze Überzeugungskraft auf, um Sophie und Ben zu trösten und ihnen zu versichern, dass alles gut werden würde. Aber sie sah die Panik in ihren Augen. Ihre Mutter konnte noch so überzeugend behaupten, dass alles in Ordnung war, irgendetwas, vielleicht eine instinktive Ahnung, verriet ihnen, dass überhaupt nichts gut war.
Auf dem Weg ins Depot hatte George zu ihr gesagt, dass er sie liebte. Die Kidnapper hatten es über den Handylautsprecher mitbekommen, und die Frau hatte verächtlich gegrinst. Der Mann mit den kurz geschorenen Haaren hatte Maggie befohlen, ihrem Mann mitzuteilen, dass er den Mund halten und mit seinem normalen Tagesablauf fortfahren solle.
In all den gemeinsamen Jahren mit George hatte sie sich noch nie so sehr gewünscht ihn zu sehen wie jetzt. Sie wollte ihm in die Augen blicken und ihm sagen, dass sie ihn ebenfalls liebte.
09.18 Uhr
Hyde Park Mansions, Apartment 21, Pimlico
Nicht nur sein Gehör hatte sich verbessert, seit er blind war, bei seinem Geruchssinn war die Veränderung vielleicht noch größer. Er hatte Aftershave noch nie gemocht, weder an sich noch an anderen, und für Parfüm galt das Gleiche. Sein Deo und die Seife, die er benutzte, waren vollkommen frei von Duftstoffen, und die spezielle Feuchtigkeitscreme, die er jeden Morgen auf sein Gesicht auftrug, damit das Narbengewebe nicht austrocknete und schuppte, duftete nur sehr schwach, nach Jojoba oder Aloe vera oder etwas Ähnlichem, ein Geruch, den er als angenehm empfand. Er mochte als »der Blinde mit dem entstellten Gesicht« bekannt sein, eine Bezeichnung, die er einmal ungewollt mit angehört hatte, aber er achtete peinlich genau darauf, dass er mindestens so gepflegt auftrat wie seine unversehrten Kollegen. Seine Kleidung war durchgehend schwarz, weil Farben keine Rolle mehr in seinem Leben spielten. Eine Frau, mit der er vor ein paar Jahren beinahe eine romantische Beziehung eingegangen wäre, hatte ihm die Frage gestellt, ob er Schwarz trage, weil er um seine Sehkraft trauere. An Tonfall und Ausdrucksweise hatte er erkannt, dass sie sich lange mit dieser Frage beschäftigt hatte und überzeugt war, ihm damit neue psychologische Erkenntnisse zu liefern. Die aufblühende Beziehung hatte kurz darauf geendet.
Romantik spielte in seinem Leben keine Rolle mehr, auch wenn er seit seiner Erblindung mit einigen Frauen ausgegangen war. Der Nachteil daran, dass er sensibler auf Stimmlage und Modulation seiner Mitmenschen reagierte, war, dass er unterschwellige Emotionen wie Mitleid deutlicher wahrnahm. Es gab Frauen – und natürlich auch Männer –, die sich von Menschen mit Behinderung angezogen fühlten, von Menschen, die irgendein Handikap aufwiesen. Das war wirklich das Letzte, was er wollte: dass ihn jemand unter anderem deswegen attraktiv fand, weil er der Blinde mit dem entstellten Gesicht war. Deshalb reagierte er bisweilen überempfindlich, wenn ihm jemand Zuneigung entgegenbrachte. Ihm war bewusst, dass das in den meisten Fällen ungerecht war, aber er konnte einfach nicht anders. Sobald er das Gefühl oder auch nur die Ahnung hatte, dass jemand aus Mitleid mit ihm zusammen war, brach er die Beziehung sofort ab. Diese Überempfindlichkeit würde ihn wahrscheinlich für den Rest seines Lebens zur Einsamkeit verdammen, doch unterm Strich kam er ganz gut damit klar. Vermutlich hatte er es seiner angeborenen Sturheit zu verdanken, dass er sich vom Verlust seiner Sehkraft nicht kleinkriegen ließ und sich und anderen beweisen wollte, dass er unabhängig war und wunderbar allein zurechtkam.
Ed plante, die nächste halbe Stunde E-Mails zu beantworten, was er mithilfe einer Sprachsoftware tat, die auf seinem PC installiert war. Zu Hause schaffte er manchmal in einer halben Stunde mehr als während eines ganzen Vormittags im Büro. Sein Fahrer war für zehn Uhr bestellt. Ed weigerte sich, einen Blindenstock oder Blindenhund in Anspruch zu nehmen und unbeholfen über Gehwege und Stufen zu stolpern. Noch viel weniger wollte er die Hilfe von Fremden annehmen müssen, um sich über die Straße führen zu lassen. Starrsinn und Stolz hielten ihn davon ab, das typische Leben eines Blinden zu führen. Diese Verweigerungshaltung schränkte ihn zwar in seiner persönlichen Freiheit ein, aber er wollte es so. Für dienstliche Angelegenheiten bekam er ohnehin einen Wagen zur Verfügung gestellt.
Als Ed gerade am Waschbecken im Badezimmer stand und Feuchtigkeitscreme auf sein Gesicht auftrug, drang ein leises Piepsen aus dem
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