9 Stunden Angst
Schlachten manifestiert. Wo auch immer man hinblickt, überall ist Propaganda am Werk. Die Nachrichtensender verbreiten Lügen und Unwahrheiten, um die Ziele und Absichten der Machthabenden voranzubringen. Daher ist das Internet meine einzige Möglichkeit, diese Botschaft zu senden. Es mag ein Ort des Lasters für verlorene Seelen sein und ist doch gleichzeitig die letzte Bastion der Redefreiheit. Propaganda ist ein zweischneidiges Schwert: Es ist nicht ihre Aufgabe, die Wahrheit objektiv abzubilden, aber es ist ihre Aufgabe, zu motivieren und aufzuwiegeln. Gläubige auf der ganzen Welt sollen sehen, dass das, was ich heute tue, ein Akt der Aufwiegelung ist. Ich sage dies als Christ und nicht als Muslim, auch wenn ich Schulter an Schulter mit meinen muslimischen Freunden stehe. Ich rufe alle Muslime und Christen dieser Welt auf, hinter die Lügen ihrer Regierungen zu blicken und sich nicht gegenseitig zu bekämpfen, sondern sich gegen den einzig wahren Feind zu verbünden. Der wahre Krieg, zu dem ich heute den Keim legen möchte, findet zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen statt!«
Dennings Stimme schwoll an, und sein Londoner Akzent wurde ausgeprägter. Die Fassade, die er zu Beginn seiner Rede aufgebaut hatte, nämlich die einer vernünftigen, ausgeglichenen Person, die eine wichtige Botschaft zu überbringen hatte, begann zu bröckeln. An die Stelle des Vernunftmenschen war ein hitzköpfiger Prediger getreten.
»Täuschen Sie sich nicht: Ich bin ein globaler Aufrührer und kämpfe Seite an Seite mit meinen Brüdern und Schwestern für meine Überzeugungen, für eine Spiritualität, die auf christlichen und islamischen Werten beruht, den Glauben an einen einzigen Gott, Gebete, Frieden, innere Einkehr. Und ich kämpfe gegen den Feind: die Mächte der Heuchelei, der Gier, der Korruption und des Krieges. Unsere vermeintlich friedliche westliche Welt zerstört und betrügt im Namen des Kommerzes und der Geschäftemacherei, während Widerstand gegen diese heimtückische Seuche als Terrorismus und Intoleranz gebrandmarkt wird. Doch jede Aktion zieht auch eine Re aktion nach sich, und die hässliche Wahrheit tritt unweigerlich zutage: Demokratie und Kapitalismus bieten genauso wenig Freiheit wie die repressivsten Regimes dieser Welt. Meine Legitimation entspringt einer einzigen Quelle, der Bibel. ›Denn das Lamm, das in der Mitte des Thrones ist, wird sie weiden und sie leiten zu Quellen der Wasser des Lebens, und Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen.‹ Offenbarung Kapitel 7, Vers 17. Ich, Tommy Denning, bin dieses Lamm. Und ich werde die Welt hier unter den Straßen Londons zu den ›Quellen der Wasser des Lebens‹ führen. Ich stehe Seite an Seite mit meinen Glaubensbrüdern und Schwestern und verkünde, dass es Zeit ist für Vergeltung. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Rache mag ein schlichtes Motiv sein, aber Rache ist auch rein und gerecht, ein Impuls, den die Leute nachvollziehen können. Ich möchte betonen, dass ich kein fanatischer Außenseiter bin, nur ein ganz normaler Gläubiger, der ein gutes, spirituelles Leben führen und etwas bewirken will. Solange es Menschen auf der Welt gibt, deren Sicherheit durch Ausbeutung und Unterdrückung in Gefahr ist, dürfen sich auch ihre Peiniger nicht in Sicherheit wiegen. Wenn wir zulassen, dass die gottlosen Unterdrücker uns untereinander entzweien, wird es ihnen auch weiterhin gelingen, uns kleinzuhalten. Und darum rufe ich heute den Krieg zwischen Gläubigen und Ungläubigen aus. All jene, die glauben: Vertraut mir! All jene, die Gott in ihren Herzen tragen: Erhebt euch und bereitet euch auf die Schlacht vor!«
Während Ed wie Millionen anderer Menschen auf der ganzen Welt Dennings Worten lauschte, spürte er, wie es ihm eiskalt den Rücken hinunterlief. Eine derart intensive Beklemmung hatte er noch nie gefühlt. Er bangte nicht mehr nur um die Passagiere im Zug, sondern auch um sich selbst. Noch nie in all den Jahren als Verhandlungsführer hatte er sich vor einer Zielperson gefürchtet, aber Tommy Denning flößte ihm Angst ein. Große Angst sogar.
12.06 Uhr
Zug Nummer 037 der Northern Line, zweiter Waggon
Varick bewegte sich auf die Türen zwischen zweitem und erstem Waggon zu. Nachdem Tommy auf die flüchtenden Passagiere geschossen hatte, drängten die meisten Fahrgäste Richtung Mitte des Zuges. Die Nerven lagen blank. Niemand wusste genau, wie viele es getroffen hatte, es war die Rede von fünf bis zehn Opfern. Wie viele es auch gewesen
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