99 Särge: Roman (German Edition)
dass der Chefredakteur es nicht für nötig gehalten hat, eine offizielle Vertretung für mich einzustellen. Und jetzt hat man dir das noch zusätzlich aufgehalst. Tut mir leid.« Nachdem sie an ihrem Tee genippt hatte, fuhr sie wie beiläufig fort: »Vielleicht komme ich gar nicht zurück. Ich habe noch keinem davon erzählt, aber Ji meint, es lohne sich nicht. Er ist ständig geschäftlich unterwegs, und wenn er doch einmal zu Hause ist, möchte er mich für sich haben.«
»Aber was wird aus deiner journalistischen Karriere? Ich kann mir eine Intellektuelle wie dich schlecht als hauptberufliche Hausfrau und Mutter vorstellen. Für ein paar Monate ja, aber wird dich das auf die Dauer nicht langweilen?«
»Keineswegs. Jis Geschäftskontakte erfordern eine Menge gesellschaftlicher Aktivitäten, er braucht mich an seiner Seite.« Dann wechselte sie das Thema. »Dein Freund Xiang hat ein noch viel größeres Familienunternehmen. Für jeden Mann – und jede Frau – kommt einmal die Zeit. Da darf man nicht zaudern.«
»Jetzt fängst du schon wieder damit an.«
»Ich will dir etwas sagen. Kürzlich bekam ich eine offizielle Liste von hundertsiebzig sprachlichen Neuprägungen auf den Schreibtisch, die das Erziehungsministerium zusammengestellt hat. Demnach bezeichnet man eine junge Frau, die mit sechsundzwanzig noch unverheiratet ist, als einen Restposten, mit dreißig ist sie bereits ein Relikt und ab fünfunddreißig gar eine Reliquie.«
»Wie gemein.«
»Aber durchaus realistisch, sogar das Erziehungsministerium hat das abgesegnet.«
»Nicht jeder hat so viel Glück wie du«, bemerkte Lianping, die nun ihrerseits das Thema wechseln wollte.
»Das kannst du laut sagen. Zum ersten Geburtstag unseres Sohnes hat Ji mir einen Lexus SUV geschenkt. Aber dein Volvo braucht sich auch nicht zu verstecken. Der ist von Xiang, habe ich recht? Du wärst einfach die ideale Frau für ihn: hübsch, gebildet und intelligent.«
»Jetzt hör aber auf, Yaqing. Er hat mir lediglich Geld für die Anzahlung geliehen. Ich begleiche die monatlichen Raten, und er bekommt sein Geld später zurück.«
Xiang hatte eigentlich darauf bestanden, die gesamte Summe zu bezahlen, aber da Lianping sich über die Zukunft ihrer Beziehung nicht im Klaren war, hatte sie abgelehnt. Er schien das eher locker zu sehen. Derzeit befand er sich mit seinem Vater auf Geschäftsreise in Guangdong und hatte es noch nicht für nötig befunden, sie anzurufen.
Wegen seines familiären Hintergrundes hatte sie versucht, die Beziehung geheimzuhalten, nur enge Freundinnen wie Yaqing waren eingeweiht. In diesen materialistischen Zeiten würden die Leute womöglich über sie reden, denn inzwischen hieß es allenthalben: Ein guter Ehemann ist heutzutage wichtiger als ein guter Job.
Und sie erachtete ihren Arbeitsplatz keineswegs als guten Job, auch wenn er sicher und einigermaßen gut bezahlt war. Außerdem konnte sie dazuverdienen, wenn Artikel von ihr in anderen Blättern veröffentlicht wurden. Die Wenhui hatte ein Abkommen mit der Nachrichtenagentur Xinhua, die ihre Meldungen auch an ausländische Agenturen verkaufte, vorausgesetzt, die Darstellung war politisch korrekt; aber genau hier lag das Problem.
Für ein Mädchen, das nicht aus Shanghai stammte, hatte sie sich in der Stadt gut positioniert. Dank einer Anzahlung ihres Unternehmer-Vaters konnte sie sich ein Apartment gleich hinter der Great World, ein bekanntes Vergnügungszentrum in der Stadtmitte, leisten, doch die monatlichen Raten stellten eine zunehmende Belastung dar. Das Gleiche galt für ihren Wagen, ganz zu schweigen von den beträchtliche Ausgaben, die sie hatte, um ihr Image als erfolgreiche junge Frau zu pflegen.
»Ach komm, ich weiß doch genau, dass er dir angeboten hat, den Wagen zu kaufen«, sagte Yaqing. »Du warst es, die darauf bestanden hat, ihm die Anzahlung später zurückzugeben. Übrigens ein schlauer Schachzug …«
Das Klingeln ihres Handys enthob Lianping der Pflicht, weitere Erklärungen abzugeben, dennoch fragte sie sich, was Yaqing daran so besonders clever fand. Sie nahm den Anruf an.
»Hallo, hier Lianping.«
»Guten Tag, hier spricht Chen Cao. Wir sind uns vor kurzem im Garten des Schriftstellerverbands begegnet. Und später haben Sie mich noch einmal telefonisch an die Gedichte für Ihre Literaturseite erinnert, wissen Sie noch?«
»Aber natürlich erinnere ich mich an Sie, Oberinspektor Chen. Sie haben also etwas für mich?«
»Nun, zumindest habe ich Ihre Anfrage
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