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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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und außer der Regula Montis Carmeli und des Neuen Testaments nichts zu lesen. Sie nennt sich Benedicta Teresa, das sind Edith Steins Ordensnamen in umgekehrter Reihenfolge. Robert Lenobel hat mich einmal nach meiner Mutter gefragt; ich antwortete, sie lebe in Frankreich. Der Fuchs hat ein Instrument zum Aufspüren neurotischer Schwingungen in seinem Hirn eingebaut, er bohrte weiter, und ich erfand drauflos. Ob sie wieder verheiratet sei, fragte er; ich sagte, nein; ob sie mit jemandem zusammenlebe, fragte er; und weil ich fürchtete, wir nähern uns wie beim heiteren Beruferaten mit Robert Lembke allmählich der Wahrheit, sagte ich, ja, sie lebe in einer Gemeinschaft. Das rechtfertigte ich vor mir damit, daß sie ja tatsächlich in einer Gemeinschaft lebte; ich also genaugenommen nicht gelogen und somit auch keinen Verrat an meiner Mutter begangen hatte. Zu Evelyn sagte ich einmal, meine Mutter sei tot. So etwas kann man nicht zurücknehmen. Man müßte es aber zurücknehmen. Ich konnte es nicht …
    Sie war nie fromm gewesen. Jedenfalls hatte ich als Kind nie den Eindruck gehabt, sie sei es. Später hätte ich es wohl gar nicht gemerkt. Manchmal sind wir in die Kirche gegangen, allerdings nur, weil mein Vater es wollte. Der Herrgott fiel ihm ein, am hellichten Nachmittag, und er meinte, es könne schaden, wenn man sich nicht ab und zu bei ihm zurückmeldete. Er schleppte meine Mutter und mich in die Kirche am Gürtel in der Nähe vom Westbahnhof (ich weiß ihren Namen nicht, die geziegelte mit dem Kuppelschiff, an der schon seit vielen Jahren ein abwaschbares Transparent mit der Aufschrift »Es gibt einen, der dich liebt … Jesus Christus« hängt). Mein Vater wollte, daß außer uns niemand in den Bänken sei, und das war in dieser Kirche an den Nachmittagen der Fall. Er fürchtete nämlich – und hoffte zugleich –, jemand würde ihn erkennen, er hielt es für kein günstiges Image für einen Jazzmusiker, in Kirchen herumzuhängen. Wir knieten in der vordersten Reihe, ich zwischen meinen Eltern, und mein Vater trug laut ein Phantasiegebet vor – wunderbar rhythmisiert übrigens –, in dem wir, seine Frau, sein Sohn, vorkamen, manchmal auch Carl; in dem er seiner Sorge, womöglich doch kein großer Künstler zu sein, Ausdruck gab und in dem er seine Vorsätze aufzählte – mehr üben, mehr üben, mehr üben, nicht so lange schlafen, nicht immer gleich explodieren, die Mama und den Sohn öfter küssen, mehr verdienen, um die Schulden bezahlen zu können. Er preßte die Hände vor die Augen, und ich dachte, jetzt denkt er sich seinen größten Vorsatz, nämlich: nicht mehr zu trinken. Meine Mutter hatte wie ich die Hände gefaltet, sagte wie ich am Ende des Gebets Amen – weil das Gebet erfunden war, wußten wir nicht, wann das Amen kam, weil mein Vater aber wollte, daß wir alle drei im Chor das Amen sagten, kündete er es jedesmal an: »Und jetzt gemeinsam: Amen!« –; ansonsten wirkte sie unbeteiligt – als gehöre sie einer anderen Religion an und verstehe diese hier nicht oder gehöre überhaupt keiner Religion an. Sie wartete, bis mein Vater fertig war. Und entsprach damit dem Bild, das ich von ihr hatte: eine Frau, die wartet. Ohne Ungeduld. Die auf nichts Bestimmtes wartete. Ihr Warten war pure Negation. Daß die Zeit vergehe. Daß keine Zeit mehr sei.
    Sie war keine ambitionierte Hausfrau, war sie nie gewesen. In diesem Punkt herrschte bei uns zu Hause Gleichberechtigung. Wir waren alle gleich nachlässig, und keinen von uns störte das. Manchmal aßen wir Tage hintereinander nur Brot mit Butter und Honig und tranken Kakao dazu (sie streute übrigens Pfeffer über den Honig). Nicht weil wir kein Geld hatten, sondern weil es keiner von uns über sich brachte, hinüber zum Johann Lammel zu gehen, um etwas Gescheites zum Essen einzukaufen. Der Haushalt war nie ein Thema gewesen. Geld übrigens auch nicht. Jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Wir waren eine Familie, in der zwar jeder Groschen umgedreht werden mußte – was ausschließlich meine Mutter übernahm –, in der Geldmangel jedoch niemals zu Streit führte. Darüber kann ich mich heute noch wundern. Mein Vater nahm gelegentlich Jobs an, kleine, leichte Arbeiten; bei der Post einmal, daran erinnere ich mich, er mußte beim Westbahnhof Pakete werfen und hat uns am Abend seine Muskeln gezeigt, hat aber bald damit aufgehört, weil er fürchtete, er könnte sich einen Finger brechen und nicht mehr Gitarre spielen. Immer wieder gab er

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