Acacia 02 - Die fernen Lande
aus. Sie kamen bereitwillig zu ihr, jene geheimnisvollen Worte und die Töne, auf denen sie dahinschwebten. Sie formte das Lied nicht selbst. Sie ließ es nur hinaus, wusste, dass es den Schaden im Innern von Aaden heilen würde, wenn sie das tat. Und das würde den Wurm besänftigen. Es war eine Art Versprechen, ein Handel, den sie mit dem Unbekannten abschloss.
Sie sang.
Corinn war sich sicher, dass draußen auf dem Meer, das die Insel Acacia umgab, die Kiefer des Scheusals dicht unter der Wasseroberfläche verharrten, dem gewaltigen Schwung Einhalt geboten, der sie angetrieben hatte. Es hielt inne, weil sie sang. Es lauschte. Es hörte zu – und dann sang der Wurm mit ihr, ein gewaltiger grollender Bass, der wunderschön und schrecklich anzuhören war.
40
Leeka Alain. Es war tatsächlich der alte General. Mehrere Tage, nachdem sie dem Mann begegnet waren, stellte Kelis fest, dass er die Überraschung innerlich immer wieder durchlebte. Wann immer er konnte, schaute er ihn von der Seite her an, machte sich aufs Neue mit den sonnengebräunten Gesichtszügen vertraut und versuchte, die Einzelheiten des Lebens dieses Mannes so zu ordnen, dass es seine Anwesenheit hier, in der wüstenhaften Weite von Süd-Talay erklären könnte. Hier war der Mann, der zu Hanish Meins Zeiten die Nordgarde befehligt hatte. Er war der Erste gewesen, der den Numrek gegenübergestanden hatte, der Erste, der einen dieser Riesen getötet hatte. Er wurde auch der Nashornreiter genannt, denn er war auf dem Rücken eines der wolligen Reittiere der Numrek vom Methalischen Rand ins Kernland hinuntergestiegen. Allerdings war seine Nachricht von den anrückenden Invasoren zu spät gekommen. Obwohl er lange und hart an vielen Fronten gekämpft hatte, war er doch nicht in der Lage gewesen, Hanishs vielfachen Angriff zurückzuschlagen. Leeka war daraufhin von der Erdoberfläche verschwunden gewesen, nur um Jahre später wieder aufzutauchen und Alivers Truppen gegen Maeander in der Ebene von Taneh in Nord-Talay zu sammeln. Und dann war er in dem Chaos, das die Santoth entfesselt hatten, verschwunden.
Das war jetzt neun Jahre her, und wieder hatte der alte General sich zu den Lebenden gesellt. Er war nicht mehr einfach nur ein abgebrühter Soldat. Jetzt war er etwas anderes, aber was genau, das konnte Kelis nicht sagen. Leeka sah keinen Tag älter aus als damals, als Kelis ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Ja, anfangs hatte es so ausgesehen, als würden seine Gesichtszüge sich verändern und neu formen, doch das hatte nach ein paar Stunden aufgehört. Sein Gesicht nahm eine normale Festigkeit an, mit kantigem Kinn, breitem Mund und hohen Wangenknochen.
Kelis erinnerte sich, dass sein Blick durchdringend gewesen war, seine Augen die eines Mannes, der Soldaten befehligte und sich mit falkengleicher Schärfe mit der Welt befasste. Jetzt schienen seine Augen die Welt in sich aufzusaugen, als hungere er nach allem, was er sah.
»Kommt mit mir«, hatte Leeka gesagt, »und eure Fragen werden beantwortet werden.« Das war alles, was er ihnen angeboten hatte. Benabe schreckte zurück und Naamen fragte und Kelis spürte die Last jener einfachen Aufforderung wie einen Stein in seinem Magen. Er hatte das Gefühl, keine Kontrolle mehr über ihr Schicksal zu haben, keine Führung mehr anbieten zu können, außer der Autorität, sie in die Hände von Kräften zu legen, die er nicht verstand. Kräfte, die zu fürchten er guten Grund hatte.
Doch Shen lächelte und fragte: »Ist es weit?« Leeka versicherte ihr, dass es nicht weit sei, wenngleich sie langsam und geduldig reisen sollten.
Und genau das taten sie. Sie trotteten weiter nach Süden, durch eine eintönige Landschaft, in der es außer dem flirrenden Tanz der Hitzewogen keine Bewegung gab, kein Lebewesen außer ihnen. Da Leeka zustimmend genickt hatte, saßen sie während der heißesten Stunden des Tages zusammengekauert im Schatten von Tüchern, die sie an dünnen, in die Erde gerammten Stäben befestigt hatten. Leeka selbst stand ein kleines Stück entfernt, die Kapuze hochgeschlagen und so reglos, dass Kelis manchmal das Gefühl hatte, der alte General wäre aus dieser Welt entschlüpft und hätte an seiner statt eine Vogelscheuche zurückgelassen.
Die vier tranken sparsam von ihrem Wasser, denn ihnen allen war bewusst, wie wenig sie hatten und wie vollkommen trocken diese Gegend war. Sie konnten nicht einmal die Wurzelknollen oder Kakteen finden, die selbst in der tiefsten Wüste existierten,
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