Acacia 02 - Die fernen Lande
zu wissen, dass sie hier sterben könnte wie jeder andere von ihnen, genau wie es ihrem Bruder ergangen war. Die Formation war jetzt aufgebrochen; einige Gleiter waren den anderen voraus. Kelis’ Boot geriet bald hinter ein paar andere, die ihm die Sicht auf die Insel versperrten, die keine Insel war. Er wünschte – obwohl er wusste, dass das kein echter Wunsch war, sondern nur einer, der dem Augenblick geschuldet war – dass Mena es zufrieden sein würde, aus sicherer Entfernung Anweisungen zu geben, so wie Corinn in einem ihrer Paläste. Ein merkwürdiger Gedanke, hier und jetzt, in diesem Augenblick. Und einer, der nicht von langer Dauer war.
Als er die Kreatur das nächste Mal sah, war sie so nahe, dass er keine Zweifel mehr haben konnte. Sie stellte jedes andere lebende Wesen in den Schatten, das er jemals gesehen hatte. Die Bestie war mit nichts zu vergleichen, das lief, schwamm oder sich wand, denn sie war so groß wie eine Felszunge oder ein Hügel – oder wie die Insel, für die er sie anfangs gehalten hatte. Sie war ein mit Flossen bestückter, schuppiger Berg von einem teilweise im Wasser lebenden Ungetüm. Das Ungeheuer sah nicht aus wie ein Fisch, hatte aber Anteile von Fischen; es sah nicht wie ein Wurm aus und hatte doch etwas Wurmähnliches, wie es sich dort mit grotesken, rollenden, krampfartigen Zuckungen vorwärtsschob. Es starrte von Schuppen, die sich ablösten, als wäre es krank, und die keinen echten Schutz boten, da sie sich bei jeder Bewegung öffneten und schlossen. Der Leib unter diesen Schuppen war so durchscheinend und scheckig und glitschig wie der eines Tintenfischs. Das Monstrum schwamm nicht, dafür war das Wasser viel zu flach. Stattdessen wand es sich mit der aufgedunsenen Entschlossenheit einer riesigen Robbe von ihnen fort. Doch es bewegte sich sehr viel langsamer als die herannahenden Gleiter.
Jetzt erreichten die vordersten Boote das Ungeheuer. Sie rasten an ihm entlang, wirkten winzig vor dem Monstrum und wurden hinter ihm vollkommen von seinem Körper verdeckt. Die ersten Armbrustschützen feuerten ihre mit Widerhaken versehenen Geschosse, an denen starke Taue befestigt waren, mithilfe einer drehbaren Konstruktion ab, die speziell für diese Aufgabe angefertigt worden war. Schon wenige Augenblicke später hatten die Taue sich hinter den schnellen Booten abgewickelt, spannten sich straff zwischen den Harpunen und den Klampen am Bug der Schwimmer. Die Taue zerrten an den Harpunen, doch statt herausgezogen zu werden, rissen die Widerhaken tiefe Gräben ins Fleisch des Übeldings. Sie bohrten sich noch tiefer hinein und steckten binnen Sekunden fest.
Der Ruck, mit dem ihre Boote zum Stehen kamen, schleuderte mehrere Seeleute ins Wasser. Andere fielen vom Bug, als Taue rissen. In zwei Booten wurden die Klampen unter einem Hagel aus Holzsplittern herausgefetzt.
Kelis sah dies alles bruchstückhaft, erhaschte erst hier und dann dort einen Blick. Als sein Gleiter allmählich in Schussweite kam, herrschte wieder etwas mehr Ordnung. Immer mehr Mannschaften erinnerten sich daran, die Segel zu reffen, wenn sie die Harpunen abschossen. Einige Boote, deren Segel sich erneut im Wind blähten, mühten sich jetzt, geschoben vom Atem der Erde. Während Boot um Boot an der wogenden Kreatur vorbeiglitt, trafen die Armbrustschützen sie wieder und wieder. Tau um Tau spannte sich. Widerhaken um Widerhaken grub sich tief in das Ungeheuer.
Es dauerte nicht lange, bis die Bestie hinter fünfzig Gleitern, zu denen sich von Minute zu Minute mehr gesellten, in die Untiefen gezerrt wurde. Jetzt gebärdete sie sich noch rasender als zuvor. Ihr Maul, das mehr als alles andere einer großen Höhle glich, hob sich aus dem Schlamm. Das Ungeheuer rang nach Luft und zeigte Reihe um Reihe von Zähnen. Es sah aus, als wolle es schreien, doch gerade weil es keine Stimme hatte, wirkte es umso grässlicher.
Kelis half dem Armbrustschützen an Bord seines Gleiters; erst stützte er ihn, während er zielte, und dann zog er ihn wieder zurück ins Boot, als das Geschoss davonzischte. Er hörte, wie der Kapitän den anderen Mitgliedern der Mannschaft Befehle zurief und tat, was er konnte, um ihnen zu helfen. Die nächsten paar Minuten waren ein einziges verschwommenes Durcheinander aus wirren Bewegungen und Lärm und Wind. Er wurde angerempelt, musste sich unter dem Segelbaum ducken und wäre beinahe ins Wasser gefallen. Überall um sie herum schossen andere Gleiter vor und zurück, rammten einander in
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