Acacia 02 - Die fernen Lande
Dariel. »Ich kann verstehen, warum sie gefürchtet werden.«
»Die hat niemals der Schöpfer geschaffen!«, stieß Rialus hervor. »Das sind Ungeheuer!«
»Vielleicht nicht«, meinte Sire Neen. »Er hatte nie sonderlich viel Phantasie. Aber wie dem auch sei, sie sind nun einmal da, ganz gleich, wie sie entstanden sind.« Er deutete mit der dürren Hand auf die Wesen; eine wegwerfende, lässige Bewegung. »Gebt Acht, was sie jetzt tun.«
Die Seewölfe kam dem Schiff jetzt noch näher, wühlten das Wasser so sehr auf, dass es aussah, als pflüge die Ambra durch ein Meer aus Kreaturen. Sie wetteiferten um Positionen direkt am massiven Rumpf des Schiffs, liebkosten ihn, stießen ihn an, versuchten, aus dem Wasser emporzugleiten, als wollten sie an ihm hochklettern. Klatschend schlugen sie mit Tentakeln auf den Schiffsrumpf ein, die sich mit geschmeidiger Kraft aus ihren Körpern hervorstreckten. Ganz offensichtlich bemühten sie sich, an dem Rumpf Halt zu finden. Doch es gelang ihnen nicht; sie glitten an der schlüpfrigen weißen Oberfläche ab. Einige schnellten förmlich aus dem Wasser, krachten mit dem ganzen Gewicht ihrer Leiber gegen den Rumpf. Und fielen dann enttäuscht und wütend wieder in die schäumenden Wogen zurück.
Eine der Kreaturen, die sich durch einen gewaltigen, mit Muscheln verkrusteten Auswuchs auf dem Kopf von allen anderen unterschied, wand sich direkt unter ihnen im Wasser, hielt mit ihnen mit. Sie rollte sich auf die Seite und schien sie einen Moment lang mit einem riesigen gelben Auge zu mustern. Die Pupille zog sich zusammen – vielleicht, weil der Himmel so hell war –, aber dennoch kam es Sire Neen so vor, als konzentriere das Tier seine ganze Aufmerksamkeit auf ihn, suche sich aus den vielen Gesichtern, die mit offenem Mund über die Reling starrten, gerade ihn heraus. Der Gildenmann empfand den plötzlichen, dringenden Wunsch, den Prinzen zu packen und über Bord zu werfen, genau auf das Auge und das wartende Maul zu. Natürlich war das ein reines Hirngespinst, denn Sire Neen war Dariel an Körperkraft weit unterlegen, aber das Bedürfnis war so stark, dass er einen metallischen Geschmack auf der Zunge verspürte. Doch der Augenblick verstrich, die Kreatur rollte sich herum und verschwand.
»Es sind so viele«, sagte Dariel. Sein Tonfall hatte sich geändert, klang jetzt jungenhaft, voller Neugier. »Was fressen sie?«
»Woher sollte ich das wissen, Euer Majestät? Nicht uns, darauf kommt es an.«
Rialus’ Stimme zitterte, als er fragte: »Dann sind wir also nicht in Gefahr?«
Sire Neen klopfte ihm auf den Rücken, mit gerade so viel Kraft, dass der Oberkörper des Ratsmitglieds gegen die Reling gedrückt wurde. »Solange Ihr nicht ins Wasser fallt, Rialus, seid Ihr auch nicht in Gefahr. Gelegentlich haben sie sich einen unachtsamen Matrosen vom Deck eines Klippers geschnappt, aber hier oben auf der Ambra sind wir weit außerhalb ihrer Reichweite. Anfangs haben wir natürlich viele Schiffe verloren, Schiffe von jeder Größe. Diese Kreaturen scheinen uns zu hassen oder nach uns zu hungern. Was vielleicht dasselbe ist. Sie haben Schiffe in Stücke gerissen und ganze Mannschaften verschlungen. Eine Weile lang haben wir versucht, uns mit Ballisten, die entlang der Reling an Deck aufgestellt waren, den Weg freizuschießen. Trotzdem haben wir immer noch die meisten unserer Schiffe verloren. Aber das war, bevor wir die Haut geschaffen haben, das ist lange her. Jetzt sind wir sicher.«
»Diese ›Haut‹«, sagte Dariel, »wie wirkt sie? Ist das nur eine Art Farbe?«
»Eine Farbe?« Sire Neen zeigte deutlich seine Verachtung über die Einfältigkeit dieser Vorstellung. »Farbe ist für die Seewölfe wie ein Gewürz. Sie fressen sie mit dem Schiff, um den Geschmack zu verbessern. Unsere Haut ist keine Farbe, aber – vergebt mir – das ist alles, was ich dazu sagen kann.«
»Ich muss wissen, was diese Haut ist«, sagte Dariel. »Bestimmt könnten wir sie nutzen, auch im Innenmeer.«
»Im Innenmeer gibt es keine Seewölfe, Hoheit, eine Tatsache, über die Ihr froh sein solltet. Was die Haut selbst angeht, das ist ein Geschäftsgeheimnis. Die Gilde muss diese Information untertänigst für sich behalten. Wir sind nur Kaufleute, Prinz Dariel, gestattet uns unsere Geheimnisse.«
Sire Neen öffnete die Augen wieder, als ihm klar wurde, dass sein Name gefallen war, und riss sich aus seinen Träumereien.
Dariel sah ihn von der anderen Seite des Tischs her an; auf seinem Gesicht
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