Accelerando
lassen, soweit ich
weiß. Meine leibliche Mutter hatte einen Imam geheiratet, aber
beide sind während des Schlamassels nach Einführung des
Wirtschaftssystems 2.0 gestorben.« Offenbar will Rita ihn zu der
Fensternische steuern, aus der Amber ihn vorhin weggezerrt hat.
»Warum fragen Sie?«
»Weil Ihnen Small Talk nicht gut liegt«, sagt Rita
leise, »und Sie sich in Menschenmengen offenbar nicht besonders
wohl fühlen. Hab ich Recht? Waren Sie das, der Wittgensteins
Kognitionstheorie auf so verblüffende Weise auseinander genommen
hat? Ich meine die Analyse, in der von dem Gödel’schen
Haken in der formalen Logik die Rede ist, diesem Haken, der jeder
verbalen Äußerung vorausgeht?«
»Das war…« Sirhan räuspert sich. »Und das
hat sie verblüfft?« Aus einer plötzlichen Eingebung
heraus spaltet er einen Agenten von sich ab, damit er Ritas
Identität überprüft und herausfindet, wer sie ist und
was sie von ihm will. Normalerweise macht er sich nicht die
Mühe, jemanden über eine lockere Unterhaltung hinaus kennen
zu lernen – es lohnt sich meistens nicht –, aber Rita hat
Erkundigungen über ihn eingezogen, und er möchte wissen,
wieso.
Wenn man die Sirhan-Version hinzurechnet, die sich mit Aineko
unterhält, sind es insgesamt drei Verkörperungen, die
derzeit Rechnerkapazitäten in Anspruch nehmen, und zwar fast in
Echtzeit. Falls er so weitermacht und ständig weitere Sirhans
abspaltet, wird er bald fatale Schulden haben.
»Allerdings«, erwidert Rita. Sirhan überrascht sich
selbst damit, dass er neben ihr auf der Bank vor der Wand Platz
nimmt. Ist ja nichts dabei, schließlich sind wir hier nicht
allein, sagt er sich mit der ihm eigenen Prüderie. Als sie
ihn mit leicht geneigtem Kopf und geöffneten Lippen
anlächelt, hat er kurz das Schwindel erregende Gefühl, er
könnte Chancen bei ihr haben. Was, wenn sie drauf und dran
ist, jeden Anstand zu vergessen? Wie würdelos! Sirhanist ein
Mann, der Selbstbeherrschung und Würde für große
Tugenden hält.
»Hat mich wirklich interessiert…« Sie
übermittelt ihm eine weitere sofort ladbare Datei, die eine
detaillierte Kritik seiner Analyse von Wittgensteins Mutter-Phobie
enthalt (im Kontext geschlechtsspezifischer Sprachkonstruktionen und
der Wiener Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts). Außerdem
liefert sie eine Hypothese mit, bei deren Lektüre Sirhan leicht
empört nach Luft schnappt. Wie kommt sie nur auf die Idee, dass
ausgerechnet er, Sirhan, Wittgensteins schräge Weltsicht teilen
könnte? »Was halten Sie davon?« Sie grinst ihn
spitzbübisch an.
»Nnngk.« Sirhan gibt sich alle Mühe, nicht die
eigene Zunge zu verschlucken, während Rita die Beine so
übereinander schlägt, dass ihr Abendkleid knistert.
»Ich, äh, will damit sagen, dass…« In diesem
Augenblick fügen sich seine Teilzustände wieder zusammen
und laden jede Menge eindeutig pornografischer Bilder auf seinen
Arbeitsspeicher ab. Das ist eine Falle, kreischen alle drei,
als sich ihm Ritas Brüste, ihre Hüften und die Scham
(sauber rasiert, wie er nicht umhin kann zu bemerken) voll
heißer, leidenschaftlicher Hingabe entgegendrängen. Mutter will damit nur erreichen, dass ich genauso versage wie sie
selbst! Gleichzeitig erinnert er sich daran, wie es sein
könnte, im Bett neben dieser Frau aufzuwachen, die er nach
zwölf Monaten Ehe noch immer nicht richtig kennt. (Einer seiner
kognitiven Agenten hat gerade mehrere Sekunden Netzwerk-Zeit –
nach subjektiver Zeitrechnung mehrere Monate – damit verbracht,
mit einer Agentin Ritas heiße, verschwitzte Nächte zu
genießen). Nebenbei bemerkt, hat Rita tatsächlich
interessante Forschungsideen, auch wenn sie eine aufdringliche und
allzu westlich sozialisierte Frau ist und glaubt, sein Leben steuern
zu können. »Was ist das?«, stottert er,
während ihm das Blut in die Ohren schießt und die Kleidung
zu eng wird.
»Nur ein Durchspielen gewisser Möglichkeiten. Gemeinsam
könnten wir viel erreichen.« Sie schlingt ihm einen Arm um
die Schulter und zieht ihn sanft an sich. »Möchtest du
nicht wissen, ob es mit uns klappen könnte?«
»Aber, aber…«, keucht er. Bietet sie mir
unverbindlichen Sex an?, fragt er sich. Es ist ihm entsetzlich
peinlich, dass er ihre Signale nicht deuten kann. »Was willst du von mir?«
»Du weißt doch,dass man mit Superplonk mehr
anstellen kann, als nervende Idioten zum Schweigen zu
bringen?!«, flüstert sie ihm ins Ohr. »Wir können
uns sofort unsichtbar machen, falls du möchtest. Es
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