Achsenbruch
nachdenken. Am Rathaus vorbei zum Parkplatz? Zu gefährlich. Vielleicht kam ja doch noch jemand von außen herum, um sie zu suchen. Außerdem – der Schlüssel für den schwarzen Golf steckte in Kalles Tasche. Also in die andere Richtung, über den Parkplatz, auf dem um diese Tageszeit noch mehrere Dutzend Fahrzeuge standen. Und bloß nicht mehr rennen!
Eine Minute später erreichte sie die vierspurige Bismarckstraße, die Rennstrecke in Richtung Bochum. Jede Menge Fahrzeuge, aber kaum Fußgänger. Hier würde sie zu sehr auffallen. Doch gegenüber, im Mühlenviertel, konnte sie zwischen den zahlreichen Ein- und Zweifamilienhäusern verschwinden.
Im Schatten der Bäume wartete sie, bis sich eine Lücke im Straßenverkehr zeigte, dann spurtete sie hinüber und verlangsamte wieder ihre Schritte. Endlich erreichte sie die Einfahrt zum Mühlenwinkel. Das gemächliche Tempo empfand sie als reine Folter.
Zwei-, dreihundert Meter weiter gelangte sie an eine Querstraße. Rechts, das wusste sie noch, ging es an der Steilwand des Ruhrtals nicht mehr weiter – in der Senke dahinter hatten einst die Stahlkocher der Henrichshütte malocht. Also nach links, zum anderen Ende. Dort führte ein schmaler Fußweg bis zur nächsten Querstraße.
Völlig ausgepumpt ließ sie sich auf dem Bordstein nieder und setzte den Rucksack ab. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nass geschwitzt war. Ihre Hände begannen zu zittern – so heftig wie bei einem Alkoholkranken auf Entzug. Worauf hatte sie sich bloß eingelassen!
Es dauerte ein paar Minuten, bis sie in der Lage war, eine Zigarette hervorzukramen und sie anzustecken. Als die Glut bis an den Filter gekrochen war, schaffte sie es auch, ihre Trinkflasche aus dem Rucksack zu holen. Sie leerte sie in einem Zug, zündete eine weitere Zigarette an und zückte ihr Mobiltelefon. Nur gut, dass sie Magers Nummer gespeichert hatte.
26
»In echt?«, fragte Lohkamp zur Sicherheit. In seinen Augen glänzte bereits das Vorgefühl des Triumphes und seine Finger streichelten das beschlagene Glas mit dem eiskalten Wodka. »Beißner hat wirklich eine Zweitwohnung?«
»Ja.«
»Wunderbar!« Der Hauptkommissar kippte den Schnaps und wischte sich zufrieden über die Lippen. »Wunderbar. Dorn stellt eine Etage tiefer alles auf den Kopf, anstatt die Wohnung zu filzen. Ich werde ihr das ganz nebenbei sagen und sie wird vor Wut platzen. Hält sich für eine perfekte Ermittlerin und sieht vor lauter Wald die Bäume nicht mehr.«
»Auch PEGASUS liebt die Natur …«
Lohkamp begriff sofort, was Mager andeuten wollte: »Untersteh dich! Und halte bloß deinen Sohn zurück! Die Sphinx wird euch erwürgen und mit Haut und Haar fressen!«
»Aber …«
»Kein Aber! Ich gehe selbst da rein, bevor ich es der Dorn auf die Nase binde – und ihr macht um das Haus einen riesigen Bogen.«
In diesem Augenblick ertönte in Magers Brusttasche das Lied vom Heiligen Krieg – jenes, mit dem die sowjetischen Truppen in die Schlacht von Stalingrad gezogen waren. Eilig zog er sein Mobiles und rannte mit einer Geste der Entschuldigung vor die Tür. Kaum zwei Minuten später kehrte er zurück: »Zu spät.«
»Was kommt zu spät?«
»Deine Warnung. Die Dorfpolizei von Hattingen hat Kalle erwischt und mitgenommen.«
»Wo erwischt? In Beißners Wohnung?«
»Im Garten hinter dem Haus.«
»Tja«, meinte Lohkamp bekümmert. »Manche Leute springen freiwillig in die Scheiße.«
Während der Hauptkommissar rechtzeitig bei Gabi zum Abendessen eintraf, brach Mager auf der A 43 seine persönlichen Geschwindigkeitsrekorde – und auf der letzten Etappe, die auf enger Straße die Ruhr entlang nach Hattingen führte, mehrere Dutzend Verkehrsvorschriften. Erst am Ortseingangsschild zwang er sich zur Mäßigung – es gab da ein paar Dorfbullen, die liebend gerne zum zweiten Mal seine Fleppen einkassiert hätten. Und ohne Führerschein war er berufsunfähig.
Endlich sah er im Scheinwerferlicht die zusammengekauerte Gestalt, die auf der Bordsteinkante auf ihn wartete. Er blendete einmal kurz auf und stieg aus, ging ihr entgegen.
»Simone!«
»Hallo, Klaus! Danke, dass du vorbeikommst.«
»Ist doch selbstverständlich. Tut mir nur leid, dass du so lange warten musstest. Aber von Recklinghausen bis hierher …«
Der Bärtige griff nach dem Rucksack und wollte ihn leger-sportlich an einem Gurt über die Schulter werfen, doch sie stoppte ihn: »Vorsicht! Wenn die Festplatte kaputtgeht, war alles umsonst!«
Er verstaute ihr Gepäck
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