Alicia II
wie ihr es mit jedem unserer Körper während der Vorbereitungen tut. Sämtliche Chemikalien wurden angewendet, der Körper ging von Hand zu Hand, man brachte die entsprechenden Drähte an und schnitt ihn an den richtigen Stellen auf. Alle in der Erneuerungskammer üblichen Maßnahmen wurden an St. Ethels Körper durchgeführt. Zu dem Zeitpunkt, als die Implantation einer eurer qualifizierten Seelen vorgenommen werden sollte, wurden die richtigen Knöpfe gedrückt und die richtige Energie angestellt. Aber es kam zu keiner Implantation, es klappte nicht. Die vorgesehene Bewohnerin nahm nicht von dem Körper Besitz, St. Ethels Körper blieb unbelebt, eine Hülle ohne Seele.«
Ihre Heiligenlegende beschwor in mir Erinnerungen an meinen Vater und das Fehlschlagen seiner Erneuerung herauf.
»Als der erste Versuch scheiterte«, fuhr Bru fort, »taten die Techniker, was sie zweifellos immer tun: Sie fanden ein paar bedauernde Worte für die Person, die ihre Chance auf ein neues Leben eingebüßt hatte, und dann begannen sie die Operation von vorn, versuchten es ein zweites Mal mit einer Übertragung. Wieder war es ein Fehlschlag. Sie versuchten es mehrere Male, heißt es, obwohl das eine Ausschmückung sein mag, die die Geschichte beim Weitererzählen erfahren hat. So oft sie es aber versuchten, jedesmal kam die Erneuerung nicht zustande. Sie hatten noch nie eine behandelte Hülle in Händen gehabt, die ihren neuen Besitzer nicht annahm. Alle früheren Mißerfolge waren auf das Verfahren oder den vorgesehenen Erben zurückgeführt worden. Ich bin überzeugt, niemand hielt es für möglich, daß ein Wiederverwertungskörper sich seinem neuen Bewohner widersetzte. Doch schließlich mußten sie es glauben. St. Ethels Körper wurde aus der Erneuerungskammer entfernt und dem Brauch entsprechend beerdigt. Nenn das, wie du willst, ein Wunder oder einfach ein Versagen der Wissenschaft. Oder vielleicht, wenn du die Religion durch die Psychologie ersetzen möchtest, war St. Ethels Wille so stark, daß er ihren Körper noch nach ihrem Tod beeinflußte. Vielleicht wollte sie mit aller Kraft, daß niemand ihren Körper bekommen sollte. Wunder oder nicht, wir glauben, daß sie das Unmögliche vollbrachte, daß sie das Ideal des Widerstands gegen die Erneuerung darstellt und daß sie jetzt bei Gott ist – der übrigens alles gutheißt, was wir in ihrem Namen tun.«
Bru sah mich herausfordernd an, als warte sie auf meinen Einspruch. Sie war so schön, wie sie auf der Bühne gewesen war, und ich wäre ihr gern nähergerückt. Aber ihre Augen setzten die territorialen Grenzen fest. Der genossene Alkohol machte mich schwindelig.
»Ich glaube nicht recht, daß ich dich bekehrt habe«, meinte sie eher zornig als mit Humor.
»Nein, aber ich bin bereit, ein Glas auf St. Ethel zu trinken, wenn es dir recht ist.«
Sie nahm mir mein Glas ab und ging ruhigen Schrittes zu der Mixmaschine.
»Du bist bereits betrunken«, stellte sie fest.
»Das muß etwas damit zu tun haben, daß ich an den Körper nicht gewöhnt bin.«
»Sag Hülle.«
»Es gefällt mir nicht, auf diese Weise an meinen Körper zu denken.«
»Sag es trotzdem. Körper ist ein zu zahmes Wort, es verbirgt die Wahrheit. Hülle erinnert dich jedes Mal, wenn du den Ausdruck benutzt, an die Sünde oder sollte dich daran erinnern.«
»Sein Name war Ernie.«
Sie wandte sich von der Mixmaschine ab, in jeder Hand ein volles Glas.
»Wessen Name war Ernie?«
»Des früheren Besitzers dieses Körpers. Dieser Hülle.«
Sie fragte mich, woher ich das wisse. Wir setzten uns wieder, und ich erzählte ihr von meinem Erlebnis mit dem rotgesichtigen Mann im Rapzug. Als ich fertig war, nahm Bru für einen Augenblick tröstend meine Hand. Sie stellte weitere Fragen, füllte uns noch öfters die Gläser und wurde offensichtlich mit mir betrunken. Und bald erzählte ich ihr von Selena und Lanna und meinem Leben in der Enklave.
Plötzlich merkte ich, daß Brus Kopf an meiner Schulter lag und daß ihre rechte Hand ein rätselhaftes Muster auf meinem Oberschenkel zeichnete.
»Du bist freundlicher, als ich erwartet hatte«, sagte ich so deutlich, wie es mir den Umständen entsprechend möglich war.
»Du bist netter, als ich erwartet hatte.«
»Wie kommst du zu diesem Urteil?«
»Ich weiß nicht. Du bist anders, du hast die meiste Zeit in einem Versteck gelebt. Deshalb kann man dich entschuldigen. Man kann dich nicht so leicht hassen wie die anderen.«
Sie zog meinen Hemdkragen zur Seite und
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