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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Jahrhundert wird ein Jahrhundert der Sowjetunion sein. Er will 15 Mio. Paar Schuhe einführen, 180 000 Tonnen Seifenartikel, 10 000 Tonnen Zahnpasta, 300 Mio. Rasierklingen. -«Die deutsche Frage hat er der Geschichte überlassen, den nächsten 100 Jahren»(«Spiegel»). Eine RAF-Uhreneinkäuferin hat vier Jahre bekommen, wegen Unterstützung der RAF. Große Entrüstung deswegen allenthalben. Nicht über die Milde des Urteils, sondern im Gegenteil. Das Ding war numeriert worden, und sie wollte nicht sagen, für wen sie es gekauft hat. Diente dann wohl zu einem Sprengsatz. Idiotische Wahlsendungen, wobei besonders dämlich die jugendfrische SPD-Sendung ausfällt. Irgendwelche Kinder, die in die Sonne laufen. Heute warb ein zahnloser Greis für das Zentrum. Neulich drei Figuren um einen Gartentisch herum, im Hintergrund ein Fachwerkhaus = DKP. - Eine junge Frau mit abnorm häßlichem Profil… - KF zeigt begreiflichen Überdruß an den Politikern. Er liest gerade ein schlimmes Umweltbuch. Usbekistan wird von Mafia-Banden durchstreift, Ungarn soll nächstes Jahr frei wählen dürfen, die DDR hat sich bedankt bei den Chinesen, daß sie so gut durchgegriffen haben. Schrecklich,
was sich die Leute drüben alles gefallen lassen müssen - und schlimm, daß sie in Münster und Bonn die China-Massaker als faschistisch und kapitalistisch bezeichnet haben. Niemand geht hier auf die Straße.
    Ein Musiker sprach mich auf mein«Beethoven»-Hörspiel an, er habe das damals gehört, und ein Kollege habe es ihm überspielt usw. - Im neuen Knaus-Verzeichnis, in dem die Chronik wieder völlig durcheinandergeraten ist, fehlt es. - In der Nacht hörte bzw. sah ich mir, von Solti dirigiert, die«Pathétique»von Tschaikowski an. Sie gilt ja als Schnulze. Mir bedeutet sie aus biographischen Gründen sehr viel, und ich muß jedesmal weinen, wenn ich eine gewisse Passage höre.
    Jahre des Lebens - alles vergebens …
    Ihr diesen Reim zu unterlegen, war eine glückliche Idee. Meine Rührung heute hinderte mich übrigens nicht, bei Soltis Anblick daran zu denken, daß er bei den Musikern den Spitznamen«der schreiende Kopf»hat.
     
    Im TV gab es ein schwimmendes Faultier zu sehen.

Nartum
So 11. Juni 1989
    Welt am Sonntag: Aufruhr in Usbekistan breitet sich aus - 80 Tote/Die«Prawda»: Gut organisierte Mafia-Gruppen wollen das gesamte Land destabilisieren
    Sonntag: Lehrer sind auch Menschen. Schule im Alltag. Mit Oberstudienrat Karlheinz Reuter sprach Charlotte Groh
     
    Das Leibschneiden ist beendet. Ich bin vollständig kuriert. Muß nur noch die Chemie wieder loswerden, die mir gegen die Koliken geholfen hat.
    Brief eines Herrn aus Rottenburg:«Ich habe mit großem Interesse und Gewinn zum wiederholten Male in der letzten Zeit Ihre Chronik gelesen.»

    Bei 70 Millionen Deutschen wiegt ein solcher Brief nicht viel. Erst wenn die Straßen unserer Städte voll Menschen sind, die im Gehen Kempowski lesen, haben wir es geschafft.
    Gestern pochte wieder der schwarze Vogel ans Fenster. Hildegard hat ihre Mühe damit, den schwarzen Schatten von ihrer Seele fernzuhalten. - Ich beschloß, der Sache ein Ende zu machen, und trat mit dem geladenen Gewehr in die Tür. Stolz war ich, wie ich da stand mit der Flinte, und Hildegard sah mir zu. Ich schoß und«fehlte»natürlich. Dafür flogen so ziemlich sämtliche Vögel des Gartens auf.
    TV: Die Legende vom braven, tüchtigen, korrekten, beherrschten, guten, flotten, willensstarken Gorbatschow. Kirchentagskitsch, junge Damen, die sich im Kreise winden, zu dritt gekrümmt nebeneinandersitzen und sich Trost zusprechen. Rowdies, die fröhlich gegen Südafrika sind. - Fürchterlich. - Nichts schlimmer als frohe Gesichter! - Ein Mann, der eine Armbrust entwickelt hat, mit der man Tiere betäuben kann.
    Ein hübscher australischer Film um einen versunkenen Bagger, der für ein Ungetüm gehalten wird (mit leider dummem, angeklebtem Schluß). Ganz herrlich schnelle Übergänge, besonderer Humor. - Die Geigerin Mutter geigte, und man warf ihr den zu schönen Klang vor, den sie produziere. Und daß sie zu gut aussieht und sich im Wald unter Bäumen fotografieren läßt. Und daß Karajan sie protegiert. Und so weiter und so fort.
    Allerlei Ostzonen-Sachen, unglaubliche Schikanen. Wenn das man gut geht! - Deutsche Wolgamenschen, die ausreisen wollen: dicke Mamis mit Zahnlücke. Gute Leute ganz offensichtlich, vor denen die Grünen und die Sozis hier zu Recht Angst haben. Ein Russe namens Portugalow, der deutsch wie

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