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All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman

Titel: All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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davon.
    Den Mund schon geöffnet, um einen Gedanken kundzutun, der sich noch gar nicht gebildet hatte, machte Melrose ihn ganz schnell wieder zu, als er Polly Praed im Eingang stehen sah. Polly sah überhaupt nicht aus wie Alice Dalyrimple, sondern
trug ihr altbewährtes senf braunes Kostüm, eine Farbe, die Melrose ihr schon vor Ewigkeiten versucht hatte auszureden. Sie wurde ihren Augen, den schönsten Augen, die er je gesehen hatte, nämlich nicht gerecht. Die waren von einem grenzenlosen, abgrundtiefen Violettblau und starrten ihn jetzt – sicher – anklagend an, wenngleich zu weit entfernt, als dass man es genau hätte erkennen können.
    Polly war nicht rein zufällig hier, sondern von ihm dazugebeten worden. Melrose hatte sie angerufen, weil er ihre Hilfe brauchte. Eine Kriminalschriftstellerin, hatte er gesagt, könne schließlich viel besser jemanden mit Fragen löchern, der wie die drei ermordeten Frauen in den Diensten einer Escort-Agentur stand.
    »Sie würden mir damit einen riesigen Gefallen tun, Polly«, hatte er gestern gesagt.
    »Gut. Dann sind Sie mir aber was schuldig.«
    Damit hatte er nicht gerechnet. In Pollys Schuld zu stehen, konnte bedeuten, ein neues Manuskript lesen zu müssen – eine Aufgabe, der er sich bisher immer erfolgreich hatte entziehen können. Es war schon schlimm genug, die erschienenen Bücher zu lesen. Oder nicht-zu-lesen. Das neue Buch, das er nicht-las, lag auf dem Sitzkissen neben ihm. Nicht-lesen erforderte einen gewissen Einfallsreichtum: wie der Autorin vermitteln, ein Buch gelesen zu haben, das er überhaupt nicht gelesen hatte. Es bedeutete gewöhnlich, den Anfang zu lesen und sich von da an etwas einfallen zu lassen.
    Rasch stopfte er das Buch zwischen Sitzkissen und Armlehne des Sofas. Allein der Titel reichte schon, einem die kleinen grauen Zellen absterben zu lassen: Im erblühenden Grabe. Das letzte, das er nicht-gelesen hatte, trug den Titel Die Welt der Gourmandise . In ihrer ganz persönlichen Suche nach der Verlorenen Zeit (wobei er hoffte, dass sie nicht genug davon fand, um noch ein weiteres Dutzend Bücher zu verfassen) hatte Polly sich aufs Schwadronieren à la Proust verlegt. Beim letzten Werk hatte der Klappentext verraten, dass die Handlung bei einem
falschen Begräbnis eine Wende vollzogen hatte – sprich, sie hatten den Falschen beerdigt. Gott allein wusste, was daraus folgen würde. Er fragte sich, wieso sie ihr Talent eigentlich so vergeudete, denn Polly war echt talentiert. Wieso pfuschte sie damit bloß so herum? Ließ es wie einen kleinen Moses in die Binsen treiben?
    »Polly, hier herüber!« Als befänden sie sich auf dem Ladedeck der Queen Elizabeth .
    Polly kam herüber – argwöhnisch, wie er nun erkennen konnte.
    Bevor Melrose den Versuch machen konnte, die Stimmung aufzulockern, war Colonel Neame auf den Beinen, um ihr herzhaft die Hand zu schütteln. »Miss Praed! Wir hatten uns kennengelernt, als Sie das letzte Mal hier waren, und ich wollte Ihnen nur sagen, wie sehr mir Die Welt der Gourmandise gefallen hat.«
    Melrose erschauderte. Das Buch über das tödlich ausgehende Abendessen eines Küchenchefs, mit Verbeugung in Richtung Proust.
    Polly bedankte sich bei Colonel Neame und kuschelte sich gemütlich in den Ohrensessel neben ihm. Ungläubig starrte sie von Melrose zu Alice, die ihren Gin nun bekommen hatte und ihn sogleich auf ex kippte. Der Kellner überreichte die beiden anderen Drinks und wartete auf die Bestellung des neuen Gastes.
    »Nichts … O doch, warten Sie, ich nehme einen Sherry. Was Sie eben dahaben.«
    »Wunderbar, Sie zu sehen, Polly. Essen Sie mit zu Abend?« An Alice gewandt, sagte Melrose: »Sie haben doch nichts dagegen, wenn Miss Praed sich uns anschließt?«
    Beide Frauen musterten ihn unsicher. Und beide bedachte er mit einem dämlichen Grinsen. Was habt ihr erwartet? Ich bin ein Idiot . Polly, das wusste er, würde der Einladung mit Freuden zustimmen. Alice wäre vielleicht etwas eingeschnappt.
    Alice Dalyrimple, die durchaus etwas dagegen hatte, meinte
jedoch nur achselzuckend: »Tun Sie sich kein Zwang an.« Sie rückte ihr Dekolleté zurecht – würde dieser Ausschnitt noch tiefer sinken? Konnte dieser Brustansatz noch deutlicher zutage treten? Zweimal ja. Vorgebeugt, die Händchen auf den Knien, fixierte sie diese senfgelb gewandete Frau, die nun ihren Sherry vom Kellner entgegennahm. Urplötzlich und schelmisch war sie dann jedoch so zuckersüß wie zuvor und versetzte Polly (die erschrocken

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