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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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sähe sie es nicht; und mit Befriedigung dachte sie: Du sollst mir noch richtig weinen.
    «Ich bin zu Fuß nach Hause gekommen», sagte sie möglichst unbefangen. «Wissen Sie, was ich beschlossen habe? Zwischen zwei Vorstellungen von
‹Wie es euch gefällt›
gehen wir ein bißchen aufs Land.»
    «Das ist eine gute Idee», sagte Fosca.
    Ohne sich stören zu lassen, aß er eine Crêpe nach der anderen.
    «Nehmt ihr mich mit?» fragte Annie.
    Auf diese Frage hatte Regine gewartet.
    «Nein», sagte sie. «Ich möchte ein paar Tage mit Fosca allein sein. Auch ich habe ihm ein paar Geschichten zu erzählen.»
    «Wieso?» fragte Annie. «Ich würde euch doch nicht stören. Früher haben Sie mich immer mitgenommen und gesagt, ich würde Sie niemals stören.»
    «Früher vielleicht», sagte Regine.
    «Aber was habe ich denn getan?» rief Annie schluchzendaus. «Warum sind Sie so hart zu mir? Wofür bestrafen Sie mich?»
    «Rede nicht wie ein Kind», sagte Regine. «Du bist zu alt, es steht dir nicht mehr. Ich bestrafe dich nicht. Ich habe keine Lust, dich mitzunehmen, das ist alles.»
    «Wie böse!» rief Annie. «Wie böse!»
    «Durch Weinen bringst du mich bestimmt nicht dazu, meinen Entschluß zu ändern. Du bist furchtbar häßlich, wenn du weinst.»
    Regine warf noch einen Blick des Bedauerns auf die Crêpes.
    «Ich gehe schlafen», sagte sie gähnend.
    «Sie sind böse! Böse!»
    Annie hatte sich schluchzend über den Tisch geworfen.
    Regine trat in ihr Zimmer, legte den Mantel ab und fing an, ihre Haare aufzumachen: Er bleibt bei ihr! Er tröstet sie! dachte sie. Mit den Absätzen hätte sie Annie zertreten mögen.
    Sie lag schon im Bett, als er klopfte.
    «Herein.»
    Fosca kam lächelnd näher.
    «Sie hätten sich nicht so zu beeilen brauchen», sagte sie. «Haben Sie sich auch Zeit genommen, die Crêpes aufzuessen?»
    «Verzeihen Sie mir», sagte Fosca. «Ich konnte Annie nicht allein lassen, sie war so verzweifelt.»
    «Sie hat nahe am Wasser gebaut.» Regine lachte. «Natürlich hat sie Ihnen alles erzählt: wie sie die Kasse der Theaterbar besorgte und mein Auftreten dort als Zigeunerin mit einem Pflaster über dem Auge?»
    Fosca setzte sich an das Fußende des Bettes: «Man darf ihr nicht böse sein. Auch sie will existieren.»
    «Sie auch?»
    «Das versuchen wir doch alle», sagte er.
    Und für eine Sekunde traf sie in seinen Augen wieder auf jenen Blick, der ihr in dem Hotelgarten solche Angst gemacht hatte.
    «Verurteilen Sie mich?» fragte sie.
    «Ich verurteile Sie niemals.»
    «Sie finden mich sicher boshaft.» Trotzig blickte sie Fosca an. «Das ist nämlich wahr. Das Glück der anderen liegt mir nicht am Herzen, und ich lasse sie gern meine Macht spüren. Annie würde mich nicht stören. Ich nehme sie aus purer Bosheit nicht mit.»
    «Ich verstehe», sagte er sanft.
    Es wäre ihr lieber gewesen, er hätte sie mit Abscheu angeblickt, so wie Roger vorher.
    «Und dabei sind Sie doch gut», sagte sie.
    Er zuckte mit unsicherer Miene die Achseln und warf ihr rasch einen Blick zu. Was konnte man von ihm sagen? Er war weder geizig noch großzügig, weder mutig noch furchtsam, weder böse noch gut; auf ihn bezogen, verloren alle diese Worte ihren Sinn. Es schien sogar erstaunlich, daß sein Haar und seine Augen eine Farbe hatten.
    «Daß Sie einen Abend damit verbringen, mit Annie Pfannkuchen zu backen, ist Ihrer wirklich nicht würdig.»
    Er lächelte. «Sie waren aber sehr gut.»
    «Sie haben Besseres zu tun.»
    «Was denn?»
    «Sie haben noch nicht die erste Szene meines Stücks geschrieben.»
    «Ach! Ich war heute abend nicht in Stimmung», sagte er. «Sie hätten lesen können. Alle die Bücher, die ich für Sie ausgesucht habe   …»
    «Sie erzählen immer dasselbe», sagte er.
    Sie blickte ihn beunruhigt an: «Fosca! Sie werden doch nicht wieder einschlafen!»
    «Nein», sagte er. «Nein.»
    «Sie haben mir versprochen, daß Sie mir helfen wollen. Sie haben zu mir gesagt: ‹Was ein sterblicher Mann tun kann, das kann ich auch.›»
    «Ach, das ist eben die Frage!» sagte er.
     
    Regine sprang aus dem Taxi und stieg eilends die Treppe hinauf; es war das erste Mal, daß Fosca bei einer Verabredung fehlte. Sie öffnete die Tür und blieb auf der Schwelle des Studios wie angewurzelt stehen. Hoch auf einer Leiter sitzend, war Fosca damit beschäftigt, die Fensterscheiben zu putzen. Er sang dabei leise vor sich hin.
    «Fosca!»
    Er lächelte. «Ich habe alle Fenster geputzt», sagte er.
    «Was ist denn in

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