Alle Toten fliegen hoch: Amerika
flog mein Hintern in die Höhe. Für eine Sekunde waren meine Beine über meinem Kopf. Handstand auf dem Sattelknauf! Nein, ich lasse diesen Knauf nicht los! Ich lasse ihn nicht los! Mit einem satten Geräusch klatschte ich breitbeinig zurück in den Sattel. Das Pferd stellte die Ohren auf, schnaubte. Mit meinem Rücken stimmte etwas nicht. Ich kam mir gestaucht und schief vor. Ich richtete mich auf, beugte mich vor und klopfte seinen Hals: »Schhh, schhhh. Everything is alright. Schhh!« Sabber tropfte ihm in langen Fäden aus dem Maul. Ich nahm mir die Zügel: »Wanna go for a ride? Hm?« Vom Pferderücken herunter schob ich den Riegel zurück. Als wenn er mich verstanden hätte, setzte er sich in Bewegung. Über zwei Stunden bin ich an diesem Morgen mit Mr. Spock ausgeritten. Lenken konnte ich ihn nicht. Er lief immer genau in die entgegengesetzte Richtung. Doch ich war froh, dass er mich überhaupt trug.
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5. Kapitel
Da ich mich im ersten Halbjahr doch leicht unterfordert gefühlt hatte, gestaltete ich das zweite um einiges anspruchsvoller. Mein Stundenplan für den second term sah so aus:
Erste Stunde: American History. Der Lehrer war ein adretter junger Mann. Selten habe ich jemanden getroffen, der so wenig zu seinem Namen passte wie dieser freundliche, stets gut gelaunte und zuvorkommende Geschichtslehrer. Er hieß Brett Schreckenghost. Ich lernte alles über Pearl Harbour und den Eintritt der Amerikaner in den Zweiten Weltkrieg. Ein Veteran im Rollstuhl kam zu Besuch. Ein mageres Männlein mit einem grotesk riesigen, strahlend weißen Gebiss. Er erzählte vom sogenannten D-Day, der Erstürmung der Normandie. Der aufgewühlten See, der Landung, und wie noch vor dem Erreichen des Strandes links und rechts von ihm seine Kameraden tödlich getroffen im eiskalten Wasser zusammenbrachen. Wie blutgetränkt der Sand gewesen sei und wie er gar nicht begriffen hätte, woher die Schüsse überhaupt kämen. Mehrmals versagte ihm die Stimme. In der Klasse herrschte betretenes und doch auch irgendwie neugieriges Schweigen. Erst als die Steilküste erklommen und die Bunkernester der Deutschen eingenommen worden waren, klang er wieder fest und stolz. Am Ende seiner abenteuerlichen Geschichte klatschten wir. Das gab es bei mir zu Hause nicht im Geschichtsunterricht, dass geklatscht wurde, wenn es um den Zweiten Weltkrieg ging. Wenn da jemand geklatscht hätte, beim Einmarsch in Polen, wäre er aber schneller beim Direktor gewesen, als er gucken konnte. Der Veteran drückte sich mühsam ein wenig aus seinem Rollstuhl hoch und verbeugte sich. Wir klatschten und klatschten. Mir tat das gut, mal auf der richtigen Seite zu stehen. Nachdem es schon geklingelt hatte, versammelten sich einige Schüler um ihn und stellten Fragen. Ein Mädchen wollte ganz ungeniert wissen, was das Grauenvollste gewesen sei, was er im Krieg je gesehen hätte. Und dann erzählte er etwas völlig Unglaubliches. Er habe einmal, in einem erstürmten Bunker, einen toten Deutschen gefunden, dem zwei abgeschnittene Zeigefinger in den Ohren gesteckt hätten. Wahrscheinlich, mutmaßte der Veteran, hätte diesem Soldaten der Geschützlärm so zugesetzt, dass er seinem toten Kameraden kurzerhand die Finger abgetrennt, sie sich in die Ohren gestopft und weitergeschossen habe. Kurz darauf hätte es wahrscheinlich dann auch ihn selbst erwischt. »These Germans«, sagte der Veteran, »are babarians. No American soldier could ever be so cruel. I still hate them. I wish I would have killed …« Mr. Schreckenghost lächelte mir freundlich zu, sagte »Sorry, Sir, but I have to lock the classroom«, und schob den Veteran einfach davon. Das ganze Halbjahr über war ich überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit im Geschichtsunterricht Heldengeschichte an Heldengeschichte gereiht wurde. Von Scham und Schande keine Spur.
Zweite Stunde: Psychologie 2. Auf Connie Hill und ihre klappenden Sandalen wollte ich nicht verzichten. Wir befassten uns mit verschiedenen Versuchsanordnungen, sowohl theoretisch als auch praktisch. Schlaue Ratten in der Skinnerbox, Rorschachtest und Milgramexperiment. Das volle Programm. Um das Thema Konditionierung zu veranschaulichen, bekamen mehrere Probanden aus der Klasse einen Doughnut zu essen. Ich war auch dabei. Da ich Doughnuts sehr mochte, hatte ich mich sofort gemeldet. Jedes Mal, wenn man in den bunt glasierten Kringel hineinbiss, drückte Connie Hill auf eine mörderisch laute Klingel. Vor Schreck kniffen wir unsere Augen
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