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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Trainings bin ich nie wieder eingeschlafen. Ich schaltete die Nachttischlampe aus und schaffte es gerade noch, den Arm, mit dem ich an der Lampenkordel gezogen hatte, unter die Bettdecke zurückzustecken, und schon schlief ich. Schräg über dem Bett hing noch immer der kleine Zettel mit der Adresse des Gefängnisses und seinem Namen: Randy Hart.
    An einem Sonntag, ich war gerade mit Stan aus der Kirche gekommen, setzte ich mich an meinen Tisch und schrieb ihm. Diesmal mit Absender. Drei Tage später lag, als ich abends ins Haus kam, seine Antwort neben einem großen Truthahnsandwich, das mir Hazel gemacht hatte. Dies ist Randy Harts erster Brief an mich:
    Wyoming State Prison
    Lieber Joachim,
    vielen Dank für deinen Brief. Ich hoffe, du warst mir nicht böse, dass ich dir nicht geantwortet habe, aber auf der Karte, die du mir geschrieben hast, war leider kein Absender. Ich habe versucht, an deine Adresse zu kommen. Man wollte sie mir nicht geben. Aber jetzt habe ich sie ja und darüber freue ich mich sehr. Es ist lange her, dass ich einen Brief geschrieben habe. Und dann auch noch auf Deutsch! Ich mache bestimmt viele Fehler. Wie geht’s dir denn so? Gefällt es dir in Wyoming? Du wohnst in Laramie? Da war ich mal vor vielen Jahren. Nettes Städtchen. Vielleicht ein bisschen langweilig. Ich hab mir so oft vorgestellt, was ich dir alles schreiben könnte, und jetzt fällt mir gar nichts mehr ein. Ich erleb hier ja auch nicht so viel. Aber vielleicht interessiert es dich ja, wie mein Tag so aussieht. Alle meine Tage sind sehr ähnlich. Morgens um sieben werden wir mit einer lauten Klingel geweckt. Das ist sehr gut. Wir im Todestrakt dürfen eine Stunde länger schlafen als die normalen Gefangenen. Gott sei Dank. Früh aufzustehen ist mir immer schwergefallen. Aber so richtig ausschlafen würde ich schon mal gerne wieder. Nachts ist es noch stiller hier als am Tag. Das hält man gar nicht für möglich. Stiller als still geht doch eigentlich gar nicht. Am Vormittag lese ich. Unsere Bibliothek ist gar nicht so schlecht. Es gibt sogar ein paar deutsche Bücher. Die habe ich schon alle durch. »Soll und Haben« von Freytag. Kennst du das? »Narziss und Goldmund« von Hesse. »Der Fragebogen« von einem Ernst von Salomon. Was für ein Name! So würde ich auch gerne heißen. Um zwölf gibt es Essen. Wir bekommen das Essen aufs Zimmer gebracht. Leider dürfen wir nicht in den großen Saal. Danach schlafe ich. Ich kann am Tag viel besser schlafen als in der Nacht, wenn es so still ist. Wenn ich aufwache, gibt es wieder Essen. Ich räume meine Zelle auf. Um sieben wird die Zelle untersucht. Alles muss ordentlich sein. Eigentlich bin ich froh, eine Zelle für mich allein zu haben. Aber etwas mehr Ablenkung würde mir guttun. Um neun geht das Licht aus. Ich lege mich auf die Pritsche und stelle mir Sachen vor, bis ich müde werde. Ich glaub, ich hör jetzt mal lieber auf. Wer weiß denn schon, ob du das alles wissen willst. Aber ein Brief von dir wäre toll. Liebe Grüße von Randy. Ach ja, ich schicke dir ein Foto von mir. Von früher. Als ich noch nicht hier drin war. So hab ich mal ausgesehen!
    Ich schüttelte den Briefumschlag und ein Passbild fiel heraus. Auf der Rückseite stand ›Randy Hart‹. Darunter: ›Summer 73‹. Ich sah ihn mir an. Kaum Ähnlichkeit mit dem Mann, dem ich im Gefängnis begegnet war. Wilde Haare, buschige Koteletten bis zu den Mundwinkeln. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er einen verwahrlosten oder verwegenen Eindruck auf mich machte. Seine Augen sahen so aus, als ob er sie oft und ausgiebig reiben würde. Vielleicht war es aber auch ein leichter Ausschlag. Da, wo am Anfang meine Familie und meine Freundin gehangen hatten, klebte jetzt Randy Harts Passfoto. Ich schrieb ihm zurück. Wieder dauerte es nur zwei Tage, bis seine Antwort kam. Immer, wenn ich ihm schrieb, dauerte es nur zwei, maximal drei Tage, bis sein Brief da war. Ich schrieb ihm über das Basketballtraining, Coach Carter, über meine Gasteltern und über Don. Seine Antwort auf meine Klagen über Don endete mit dem schlichten Vorschlag: »Hau ihm eine rein, das wirkt manchmal Wunder.« Und ich schrieb ihm über den Verlust meines Bruders. Er war der Einzige, dem ich Genaueres über den Unfall erzählte. Ich habe Randys Briefe damals durchnummeriert. In Amerika hat er mir vierundzwanzig Briefe geschrieben. Während der ersten Zeit kamen Randys Briefe vollständig bei mir an, doch dann schienen sie jemand gefunden zu haben, der

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