Alles ist erleuchtet
sich hätten. Das ging vermutlich auf das Konto eines reisenden Buchhändlers, eines Zigeuners, der alle zwei Monate am dritten Sonntag mit einer Wagenladung Bücher auf dem Schtetl-Platz erschien und diese anpries: Weite, wuchtige Welten aus Worten, ein Wirbel wirklicher Wunder. Wie sollte einem Auserwählten Volk etwas anderes über die Lippen kommen als der Satz: Das kann ich auch. Zwischen 1850 und 1853 wurden über siebenhundert Romane geschrieben. Einer begann: Wie lange habe ich nicht mehr an diesen windigen Morgen gedacht. Ein anderer: Man sagt, jede Frau erinnere sich an das erste Mal, doch für mich gilt das nicht. Ein anderer: Mord ist natürlich eine schlimme Sache, aber Brudermord ist gewiss das grausigste Verbrechen, das die Menschheit kennt. Es gab 272 nachlässig getarnte Memoiren, 66 Kriminalromane, 97 Kriegsgeschichten. In 107 Romanen tötete ein Mann seinen Bruder. In allen bis auf 89 war jemand untreu. In 3 3 fragten sich verliebte Paare, was die Zukunft für sie bereithalten mochte; 68 endeten mit einem Kuss; in allen bis auf 29 kam das Wort »Schande« vor. Wer nicht lesen und schreiben konnte, schuf einen visuellen Roman aus Kollagen, Stichen, Bleistiftzeichnungen und Aquarellen. In der Jankel-und-Brod-Leihbücherei wurde ein eigener Raum für die Trachimbrod-Romane eingerichtet, obwohl schon nach fünf Jahren nur noch wenige davon gelesen wurden. Beinahe ein Jahrhundert später ging einmal ein Junge zwischen den Regalen umher. Ich suche ein Buch, sagte er zu der Bibliothekarin, die seit ihrer Kindheit für die Trachimbrod-Romane zuständig war und sie als Einzige allesamt gelesen hatte. Mein Urgroßvater hat es geschrieben.
Wie hieß er denn?, fragte die Bibliothekarin. Safranbrod, aber ich glaube, er hat ein Pseudonym benutzt. Und wie hieß sein Buch?
Ich habe den Titel vergessen. Er hat die ganze Zeit davon gesprochen. Er hat mir zum Einschlafen Geschichten daraus erzählt. Wovon handelt es?, fragte sie. Von Liebe. Sie lachte. Davon handeln alle.
KUNST
Kunst ist das, was nur mit sich selbst zu tun hat - das Ergebnis eines erfolgreichen Versuches, ein Kunstwerk zu schaffen. Leider gibt es keine Beispiele für Kunst, ebenso wenig wie es gute Gründe gibt zu glauben, dass es sie je geben wird. (Alles Gemachte ist zu einem Zweck gemacht worden, der außerhalb des Gemachten liegt, z.B. Ich will das verkaufen oder Ich will, dass dies mich berühmt und geliebt macht oder Ich will, dass dies mich heil macht oder schlimmer Ich will, dass dies andere Menschen heil macht.} Und doch fahren wir fort zu schreiben, zu malen, zu modellieren und zu komponieren. Sind wir deshalb töricht?
STÜCK
Ein Stück ist das, was einen Zweck hat, was aus Gründen der Funktionalität geschaffen worden ist und mit der Welt zu tun hat. Alles ist in irgendeiner Weise ein Stück.
WERK
Ein Werk ist eine Tatsache in der Vergangenheitsform. Zum Beispiel glauben viele, dass Gott nach der Zerstörung des Ersten Tempels zu einem Werk geworden ist.
KUNSTSTÜCK
Ein Kunststück ist das, was im Entwurf Kunst und in der Ausführung Stück ist. Sieh dich um. Beispiele finden sich überall.
KUNSTWERK
Ein Kunstwerk ist das Ergebnis eines erfolgreichen Versuchs, aus einer Tatsache in der Vergangenheitsform etwas Zweckloses, Nutzloses, Schönes zu machen. Es kann nie Kunst sein, und es kann nie Werk sein. Juden sind Kunstwerke des Gartens Eden.
STÜCKWERK
Musik ist schön. Seit undenklichen Zeiten haben wir (die Juden) nach einer neuen Sprache gesucht. Oft fuhren wir die Art, wie wir im Lauf der Geschichte behandelt worden sind, auf schreckliche Missverständnisse zurück. (Worte bedeuten nie das, was sie bedeuten sollen.) Wenn wir durch etwas wie Musik kommunizieren würden, gäbe es keine Missverständnisse, denn in der Musik gibt es nichts zu verstehen. Das ist der Ursprung des Intonierens der Thora und höchstwahrscheinlich auch des Jiddischen, das die lautmalerischste aller Sprachen ist. Es ist auch der Grund, warum die Alten, insbesondere die, welche ein Pogrom überlebt haben, so oft summen, warum sie anscheinend gar nicht aufhören können zu summen und entschlossen zu sein scheinen, keinen Augenblick der Stille, keine linguistische Bedeutung von Stille zu dulden. Doch solange wir diese neue Sprache oder ein nicht bloß annäherndes Vokabular noch nicht gefunden haben, müssen wir uns mit unsinnigen Wörtern behelfen. Stückwerk ist ein solches Wort.
DIE ERSTE VERGEWALTIGUNG VON BROD D.
Die erste Vergewaltigung von
Weitere Kostenlose Bücher