Als gaebe es kein Gestern
amerikanischen Eichen entlang. Die zum Teil noch grünen, zum überwiegenden Teil aber bereits gelben und rot-goldenen Blätter wurden vom Sonnenlicht angestrahlt und stellten jedes Gemälde in den Schatten.
„Wenn du deine Hausaufgaben fertig hast, fahren wir zum Waldspielplatz“, überlegte Livia. „Deine Mama ist im Moment so fit, dass sie das hinkriegt.“ Sie lächelte froh. Seit einigen Tagen war Karen das blühende Leben, fast so wie in alten Zeiten. Manchmal ertappte sich Livia sogar bei dem Gedanken an eine mysteriöse Wunderheilung. Karen glaubte doch so fest an Gott. Und Arvin hatte in letzter Zeit ziemlich häufig für sie gebetet. Ob es diesen Gott vielleicht doch gab? Und ob er am Ende sogar eingegriffen hatte?
„Ist das der Spielplatz mit der Seilbahn?“, wollte Vanessa wissen. Sie hatte ihre kleine weiche Hand fest in Livias platziert und vermittelte Livia damit das Gefühl, dass sie akzeptiert und gebraucht wurde. Überhaupt hatte sich in letzter Zeit alles recht gut eingespielt. Vanessa gehorchte Livia schon fast so gut wie Karen und hatte aufgehört, die beiden gegeneinander auszuspielen.
„Genau der“, lächelte Livia. „Wir setzen Mama auf die Bank und fahren immer hin und her. Was sagst du dazu?“
„Hm.“ Vanessa schien nicht so begeistert. „Franzi hat gefragt, ob ich mit ihr spielen will …“
„Auch gut“, nickte Livia. Franziska war Vanessas neue Busenfreundin und ein Kontakt, der Vanessa richtig guttat. Die beiden verstanden sich so hervorragend, dass Vanessa schon ein paarmal bei Franziska übernachtet hatte. „Der Spielplatz läuft uns ja nicht weg.“
Sie bogen jetzt in ihre Straße ab. Die schöne Allee mit dem breiten Fußweg verwandelte sich in eine reine Kopfsteinpflasterstraße, die es notwendig machte, auf das unbefestigte Seitenteil auszuweichen.
„Ich will aber bei Franzi spielen“, betonte Vanessa.
Livia verzog das Gesicht. Sie kannte das riesige Haus mit dem wundervollen Garten nicht weit von ihnen, in dem Franzi wohnte. Und sie konnte auch gut verstehen, dass Vanessa das Trampolin, das Baumhaus und die anderen Spielgeräte dem eigenen, immer noch völlig spartanischen Garten vorzog. Aber sie wusste auch, dass Karen jede freie Minute mit ihrer Tochter verbringen wollte, und hatte überhaupt keine Lust auf Karens enttäuschtes Gesicht. „Du hast erst vorgestern bei Franzi gespielt“, sagte sie deshalb. „Ich finde, ihr könnt auch mal bei uns spielen.“
„Und was sollen wir da spielen?“, ereiferte sich Vanessa. „Ich hab nicht mal ’n Gameboy.“
Livia musste schlucken. Der spartanische Garten hatte etwas mit Arvins Abneigung gegen Veränderungen zu tun, der fehlende Gameboy mit Karens Wunsch, ihre Tochter sinnvoll zu beschäftigen. „Du hast Barbies“, erinnerte sie ihre
Nichte.
„Ich hab Barbies, die eine Million Jahre alt sind“, behauptete Vanessa. „Aber Franzi hat Cinderella mit Kutsche, sieben Pferde und einen Palast, der im Dunkeln leuchtet!“
Nun, dagegen war nichts zu sagen … „Also gut“, sagte Livia und seufzte tief. „Ich bring dich hin.“
Sie waren inzwischen vor dem Haus angekommen. Livia kramte in ihrer Hosentasche nach dem Schlüssel und öffnete die Haustür. „Wir sind wieder da!“, rief sie.
Karen antwortete nicht.
„Ich mach mir was zu trinken!“, sagte Vanessa und streifte sich die Schuhe von den Füßen. „Darf ich Apfelsaft?“ Rumms … der Tornister landete direkt vor Livias Füßen.
„Misch ihn dir aber mit Wasser“, rief Livia hinter ihrer Nichte her und stellte erst einmal den Tornister zur Seite. Dann zog sie sich ebenfalls Schuhe und Jacke aus und folgte Vanessa in die Küche. „Trink nicht so hastig!“, ermahnte sie Vanessa, die auf einem niedrigen Hocker vor der Arbeitsplatte stand und mit lauten Schlucken den Saft in sich hineinschlürfte.
Livia sah sich um und runzelte die Stirn. Wo war Karen? Sonst wartete sie doch immer schon im Flur auf ihre Tochter …
Einem unguten Gefühl folgend, machte sich Livia auf die Suche. Sie sah zuerst im Wohnzimmer nach, fand aber niemanden und machte sich deshalb auf den Weg in Karens und Vanessas Schlafzimmer. Als sie leise die Tür geöffnet hatte, atmete sie auf. Karen lag in ihrem Bett und schlief.
Das tat sie doch, oder?
Eigentlich war es nicht verwunderlich, dass sich Karen noch einmal hingelegt hatte, schließlich hatten sie sich gestern Abend noch sehr lange unterhalten.
Was Livia jedoch irritierte, war diese Art von Schlaf … diese
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