Als ich vom Himmel fiel
die ich so dringend brauchte, und darum wollte ich aus dieser Isolierstation erst gar nicht wieder raus.
Nach vier Wochen, als es mir schon viel besser ging, erfuhr der Arzt, dass ich in Deutschland nicht krankenversichert war und die Kosten selbst tragen musste. Bettruhe und Diät, meinte er, könne ich auch zuhause einhalten, und entließ mich auf der Stelle. Und ich dachte: Oh nein, jetzt muss ich schon wieder woandershin! Aber meine Tante kümmerte sich so liebevoll um mich, dass ich nach und nach begann, mich heimisch zu fühlen. Noch einige Wochen lang hütete ich das Bett. Meine neuen Klassenkameradinnen kamen mich hin und wieder besuchen, und dann waren auch schon die großen Ferien da.
Im September begann ich ganz regulär das neue Schuljahr und siehe da: Mit der Unterstützung meiner Tante fand ich den Anschluss an die zwölfte Klasse und musste die elfte nicht wiederholen. Ich wählte die Leistungsfächer Biologi e – natürlich ! – und Deutsch, Letzteres auf Zuraten meiner Tante, die ja Schriftstellerin war und meine Begeisterung für Literatur nach Kräften unterstützte. In diesem Fach war ich immer gut gewesen, doch sie half mir, meinen Stil zu verbessern. Lediglich in Mathematik wurde ich zurückgestuft, da wir in Peru keine Mengenlehre gehabt hatten und das Pensum dort ein wenig anders gelagert war. Am Ende schrieb ich eine glatte Eins im Deutsch-Abitur, und ich war sehr stolz darauf.
Tante Cordula war eine äußerst interessante Frau, und ich lernte es täglich mehr zu schätzen, bei ihr wohnen zu dürfen. Sie war, wie schon gesagt, Journalistin und Schriftstellerin und lebte, da unverheiratet, mit ihrer Mutter zusammen. Sie war stets über alles im Bilde, was in der Politik und im Bereich der Kunst los war, und schärfte meine Wahrnehmung für solche Dinge, die mich vorher nicht so besonders interessiert hatten. Sie schrieb unter anderem recht erfolgreiche Biografien über Lou Andreas-Salomé und Edith Stein. Wenn sie mir bei meinen Aufsätzen, besonders bei den Interpretationen, helfen konnte, dann war sie so richtig in ihrem Element. Ich werde nie vergessen, wie sie mir beibrachte, Gedichte zu interpretieren. Sie wollte, dass ich alles selbst herausfand, was in so einem Gedicht steckt, und ermutigte mich so lange, bis es mir gelang. Das waren Stunden, die uns sehr verbanden, und ich bin ihr heute noch dankbar dafür, dass sie mir die Sinne für alles Kulturelle geöffnet hat.
In diesen beiden ersten Jahren in Kiel zeichnete und malte ich viel, benutzte gerne Kreiden und Kohle. Sicherlich habe ich die Anlagen dafür von meiner Mutter geerbt, die eine ausgezeichnete Tierillustratorin war. Sie hatte bei Prof. Hans Krieg in München gelernt, wie man Vögel im Flug und andere Tiere in schneller Bewegung zeichnet, und das rasche Skizzieren zur Perfektion gebracht. Sie illustrierte außerdem die Bücher meines Vaters und fertigte dafür Hunderte von Zeichnungen an. In Peru kam nach ihrem Tod ein Briefmarkensatz mit fünf ihrer Vogelzeichnungen heraus.
Nun hatte auch ich viel Freude am Zeichnen, sodass ich mir sogar ernsthaft überlegte, Kunst zu studieren statt Biologie. Eine Lehrerin am Gymnasium, zu der ich einen besonderen Draht hatte, förderte mein Interesse außerdem. Sie nahm mich mit auf Ausflüge, um hier und dort eine Ausstellung anzusehen. Auch zu sich nach Hause lud sie mich ein, und bei diesen Gelegenheiten lernte ich einige Künstler der Kieler Kulturszene kennen. Das alles hat mich sehr bereichert, denn in Peru hatte ich dergleichen nie erlebt.
Wenn ich die Vergangenheit auch gerne vergessen wollte, immer wieder gab es die Notwendigkeit, mich an das Geschehene zu erinnern. Der »Stern« hatte die Rechte an meiner Geschichte an eine Filmproduktion weiterverkauft, und ein italienischer Regisseur namens Giuseppe Scotese (nicht zu verwechseln mit dem berühmten amerikanischen Regisseur Scorsese) besuchte mich, um Informationen aus erster Hand zu bekommen. Also musste ich ihm alles noch einmal von vorne erzählen und seine zahlreichen Fragen beantworten. Das tat ich dann auch geduldig, wurde aber nicht weiter in die Filmarbeiten involviert. Mir war es recht so, je weniger ich damit zu tun hatte, desto besser, fand ich.
Mein erstes Jahr in Kiel neigte sich dem Ende zu. Vielleicht fragte sich meine Tante bang, wie ich wohl das Weihnachtsfest empfinden würde, den Jahrestag jenes schrecklichen Erlebnisses. Doch es war eigenartig: Vielleicht weil Weihnachten in Deutschland so völlig
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