Als Mrs Simpson den König stahl
lege. Dieselben Worte hätten auch auf seine Mutter gemünzt sein können. Diese hatte ihre wenigen wertvollen Besitztümer von einem entfernten Cousin geerbt, der sein Leben als kinderloser Junggeselle verbracht hatte.
Unterredungen zwischen Julian und seiner Mutter gingen nur selten über drei Themen hinaus: dass sie ihren einzigen Sohn nicht oft genug sah; wie schwierig es war, über die Runden zu kommen; und das Königshaus. Mrs Richardson drückte ihre Zigarette aus, nur um sich sogleich eine weitere anzustecken, und erwähnte den längst verstorbenen Cousin, der vorübergehend als Zweiter Kammerherr am Hof des letzten Königs gearbeitet hatte. Offenbar gestattete ihr diese Beziehung, Urteile zu fällen, als sei sie eine intime Freundin der königlichen Familie.
»Ich finde es jammerschade, dass der König so lange auf die eigentliche Krönung warten muss. Er wird das Gefühl haben, in der Luft zu hängen. Ich bin überzeugt, dass er es kaum erwarten kann, mit der Krone auf dem Haupt herumzulaufen«, hatte sie vergangene Woche bemerkt.
»Mach dich nicht lächerlich, Mutter«, hatte Julian sie angeherrscht. Sie aber hatte einfach weiter drauflosgeredet, sich noch
eine Zigarette angezündet und sie zielsicher in das zierliche Mundstück gesteckt.
»Du magst mich lächerlich finden, aber jemand in meiner Position hat eine klare Vorstellung davon, wie ihm zumute sein muss.«
Damit erhob sie sich, um einen Aschenbecher zu holen. Ein Hauch von Chanel N° 5 folgte ihr in die Küche – das Lieblingsparfüm der Herzogin von York, wie ihr Cousin einmal in strengstem Vertrauen ausgeplaudert hatte. Julian blieb am Tisch sitzen und versuchte, auf diese Angewohnheit seiner Mutter – üblicherweise ergriff sie die Flucht, sobald sie etwas hörte, was ihr nicht gefiel, von dem sie aber wusste, dass es zutraf – nicht zu reagieren. Selbst wenn Sir Philip ihn nicht darum gebeten hätte, Details von Mrs Simpsons Abendessen für sich zu behalten, Julian hätte seiner Mutter niemals die Genugtuung verschafft, über dieses Wissen zu verfügen. Dass seine Mutter so gereizt war, gründete teilweise auf ihrem Verdacht, dass Julian ihr Einzelheiten seines Lebens vorenthielt, die zu hören sie sich alle zehn Finger abgeschleckt hätte.
Auch über seinen Vater sprach Julian mit Mrs Richardson nie. Alle, die den jähzornigen, aber heroischen Landarzt kannten, waren überrascht, als er das hübscheste und verzogenste Mädchen aus dem Dorf in North Yorkshire, in dem er aufgewachsen war, geheiratet hatte. Dr. Richardsons Braut, eine gewisse Margaret Cottesley, wollte nur eines im Leben, und das war eine angemessene »Position« (noch immer ihr Lieblingswort), und um diese zu erlangen, war sie gewillt, jeden zu heiraten, der des Weges kam, ohne Rücksicht auf Alter, Aussehen und Charakter. Dieses eine Mal in ihrem Leben hatte sich Miss Cottesley der Macht weiblicher Verführungskunst bedient und gewonnen. In Wahrheit hatte sie ihren Ehemann nie geliebt, auch wenn sie dieses Detail für sich behielt.
Julian kannte die Vorgeschichte von seinem alten Schulleiter Mr Bellington, dem engsten Freund seines Vaters. Nach seiner
Qualifikation – seine Medizinprüfung hatte er mit Auszeichnung bestanden – hatte Julians Vater beschlossen, sich nicht als praktischer Arzt niederzulassen, sondern stattdessen eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Die beiden Jahre, die er in der fröhlichen und anregenden Gesellschaft Bellingtons und anderer blitzgescheiter Männer und Studenten am Balliol College unterrichtet hatte, waren die glücklichsten seines Lebens gewesen. Selbst Dr. Richardsons langweilige Frau wirkte einigermaßen zufrieden; sie sonnte sich in den Einladungen zu all den Cocktailpartys, die Nord-Oxford für die meisten Wochentage verschickte.
Der Kriegsausbruch 1914 hatte zur Folge, dass Dr. Richardson seine Dozentur niederlegte und sich als Sanitäter zum Einsatz in den Schützengräben an der Front meldete, wo er mit instinktiver Gelassenheit und Professionalität Wunden behandelte, die so furchtbar waren, dass seine ganze Ausbildung ihn nicht darauf hatte vorbereiten können. Seine zupackende Tatkraft in Situationen, vor denen andere sich gescheut hätten, bewog ihn kurz nach dem Waffenstillstand, mit dem Förderkorb in einen der Grubenschächte vor Ort zu fahren, um bei der Befreiung eines Bergarbeiters zu helfen, der bei einem Kohleneinbruch verschüttet worden war. Ermutigt von den beruhigenden Worten des Arztes, arbeitete
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