Alteuropa-Trilogie 1 - Im Jahr der Pferde
speziell dafür vorgesehene Löcher entlang dem Rand geschoben, ein großes blau-weißes Sonnensegel wurde an geflochtenen Seilen aufgezogen, und die Plattform verwandelte sich in eine Zuschauertribüne.
An diesem warmen Frühlingsnachmittag, knapp zwei Tage nach ihrer Ankunft in Itesh, standen Marrah, Arang und Stavan auf der Plattform hoch über der Menschenmenge und schauten zu, wie eine endlose Prozession von Göttinnenanbetern vorbeitanzte, wobei sie mit den Füßen zu dem ohrenbetäubenden Rhythmus von Hunderten von Trommeln auf den staubigen Boden stampften. Während Marrah zuschaute, klopften ihre Füße den Takt mit, ihre Hüften bewegten sich, und ihre Arme schwangen vor und zurück, aber alles sehr diskret. Trommeln hatten ihr Blut schon immer in Wallung gebracht und in ihr den Wunsch geweckt, zu stampfen und zu singen, aber die Regeln des Anstands und diese lästige Sache, die sich Höflichkeit nannte, verlangten, daß sie hier oben auf der Plattform ausharrte wie eine alte Frau, für die die Zeit des Tanzens vorbei war. Ach, könnte ich doch da unten in der Menge mittanzen! dachte Marrah sehnsüchtig.
Arang und Stavan mußten ähnlich denken, denn auch sie tanzten dezent auf der Stelle, was verständlich war, denn wem fuhr nicht der Rhythmus in die Glieder, wenn er jene Trommeln hörte? Sie hämmerten und dröhnten und übertönten einfach alles, verführten dich, bis dein Herz im Gleichklang mit jedem Schlag der Trommelstöcke klopfte. Marrah hatte noch niemals ein solch mitreißendes Trommelkonzert gehört. Die Trommler von Itesh waren sogar noch besser, als Rhoms Vettern versprochen hatten.
Sehnsüchtig blickte sie auf die Tänzer, die schon halb in einem Zustand der Ekstase versunken waren, der den größten Teil der Woche andauern würde. Bunt verstreut zwischen ihnen bewegten sich die verschiedenen Arbeits- und Freizeitgemeinschaften, allesamt in passende Kostüme gekleidet. Die meisten stellten Tiere dar: Die Gemeinschaft der Käsehersteller stolzierte in Umhängen aus Ziegenfell vorbei. Die Mitglieder der »Gemeinschaft der Männer und Frauen, die jagen«, trugen Fuchs- und Mardermasken, und die Gemeinschaft, die Festlichkeiten organisierte, hatte dieses Jahr entschieden, ihre Mitglieder als plumpe Rebhühner zu kostümieren.
Die Göttinnenstatuen waren riesig, meist aus Holz oder manchmal aus Ton gefertigt, einige so schwer, daß mehr als zwanzig Männer und Frauen nötig waren, um sie zu tragen, aber von Marrahs Aussichtspunkt aus machten die Trägerinnen und Träger den Eindruck, als trügen sie bloße Luft auf ihren Rücken. Auch sie tanzten und sangen und bewegten sich in einem vielfach gewundenen, sich schlängelnden Muster vor und zurück, und während sie tanzten, tanzten die Göttinnenstandbilder auf ihren Rücken mit ihnen, so daß Tänzer, Statuenträger und Göttinnenbilder von oben betrachtet wie eine einzige lange, fröhlich bunte Schlange wirkten, die sich langsam um die Stadt ringelte.
Hier kam die Schlangengöttin selbst, blau und glitzernd, aus einem mehrfach gedrehten Rahmen aus geflochtenem Weidenrohr gefertigt und mit Hunderten von geschnitzten hölzernen Schuppen bedeckt; hier kam Sie als Vogel, der über der Menge schwebte, ein gigantischer Milan mit buntschillernden Federn. Die Meeresgöttin war lebendig und winkte allen zu, warf Kußhände vom Rücken eines großen Delphins aus Leinen und Gips in die Menge, während die Göttin in Gestalt des Bullenkopfes gigantische rote Hörner der Weihe trug, mit Troddeln und Quasten geschmückt, die fröhlich im Wind flatterten. Es gab eine kurze Pause, und dann erschien die Göttin des Todes, eine stark stilisierte Figur, die exakt so aussah wie die steifen Knochen- und Alabasterstatuen, die das Volk von Gira in die Gräber seiner Toten legte. Der Todesgöttin folgte eine Prozession von Männern und Frauen, die sich gegen die Brust schlugen und Klagelieder in der Alten Sprache sangen, aber selbst die Totengesänge klangen ziemlich fröhlich, und wenn man genau auf den Text achtete, dann waren die Worte ausgesprochen derb, wie Marrah erkannte. Gleich hinter der Göttin des Todes, praktisch direkt auf ihren Fersen, kam die Göttin der Fruchtbarkeit, aus Stroh und Blumen geflochten. Sie wurde auf dem Rücken liegend getragen, die Beine in die Luft gereckt, während Dutzende von kleinen nackten Kindern zwischen ihren Strohschenkeln hervorkrochen, aber es war der Begleitzug, der die größte Aufmerksamkeit erregte. Es mußten zwanzig
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