Am Ende eines Sommers - Roman
streiche mit dem Finger über die goldgeprägten Buchstaben und stelle mir vor, wie es zu Hause in meinem Bücherregal steht.
»Mr Horrocks, ich …«
Er legt mir die Hand auf die Schulter und drückt sie. »Mrs Horrocks hat immer gesagt, ich soll es dir geben. Und dein Geburtstag scheint mir eine gute Gelegenheit zu sein, mein Junge. Also ist es eigentlich von uns beiden.« Er steht aus seinem Sessel auf. »Also, jetzt wollen wir mal Griffins Leine suchen, ja? Nimm auch ein bisschen Hundefutter mit, wenn du schon da bist. Deine Mum fragt sich bestimmt, wo du bleibst.«
In der Ladentür versuche ich noch einmal, mich bei Mr Horrocks für das Buch zu bedanken, aber er schüttelt den Kopf und klopft mir auf den Rücken.
»Happy birthday, mein Junge. Wir sehen uns also nächsten Samstag zu deinem ersten Tag im Laden?«
Ich nicke und winke ihm zum Abschied zu, als er hinter mir abschließt. Inzwischen ist es dunkel, und als ich so durch die stillen Straßen gehe, mit Griffin an meiner Seite und Mr Horrocks’ Buch unter dem Arm, denke ich an zu Hause. An das Zuhause, wo ich und meine Mum und mein Dad und mein Bruder wohnen. Alle zusammen.
Mary,
September 1978
Neun Uhr zehn. Es ist so still im Haus. Heute Morgen, als ich vom Schultor wegging, schaute der kleine Andy sich noch einmal um und winkte. So voller Selbstvertrauen, so ganz anders als die beiden andern an ihrem ersten Tag. Seine Beine sahen winzig aus und immer noch wie die eines pummeligen Kleinkindes, mit runden Waden, in die kurze, graue Söckchen kneifen. Im Himmel war noch ein Hauch von Sommer, und die Sonne leuchtete wie ein Heiligenschein um sein Haar. Matthew und Jake haben sich heute nicht mal umgeschaut; sie sind geradewegs in Reih und Glied in ihre Klassen marschiert, Sklaven der Routine schon jetzt.
Das Frühstücksgeschirr stapelt sich neben der Spüle, jetzt habe ich jede Menge Zeit, um die Hausarbeit effizienter zu erledigen. Ich könnte ungestört stundenlang sauber machen und hätte immer noch Zeit für eine Tasse Tee und eine Illustrierte. Wenn ich wollte. Aber den Wasserhahn aufdrehen, das Spülbecken volllaufen lassen, das Geschirr abwaschen – das kommt mir unmöglich vor. Ich starre ins Leere und kämpfe um eine Entscheidung. Ich würde mich besser fühlen, wenn ich es einfach erledigte. Wenn ich es jetzt mache, kann ich mich nachher entspannen. Die Jungs würden sich über ein gekochtes Essen nach der Schule freuen. Aber ich weiß, ich werde ihnen Käsetoast geben. Oder Burger. Wenn Jake nicht so heikel wäre … aber jeder will etwas anderes. Käsetoast essen wenigstens alle, das weiß ich. Ich versuche mir vorzustellen, was Rachels Kinder wohl essen, wenn sie aus der Schule kommen. Eintöpfe, Schmorbraten, Gemüse, Obstkuchen, Baisers. Sandwiches und Scones zum Tee. Ihre Abwesenheit tut so weh, dass ich mich zusammenkrümme, und blinzelnd starre ich auf das hochgewellte Linoleum in der Ecke der Küche und kralle die Hände in die Brust. Das Herz darin schlägt zu schnell. Ich schluchze um meine Rachel, die mich in ihr Bett geholt hat, wenn ich von dem Ungeheuer in der Glühbirne geträumt habe. Rachel, die mich an meinem ersten Schultag diskret zur Schulschwester gebracht hat, damit die mir einen trockenen Schlüpfer anzieht. Rachel, die sich auskannte mit der Welt und die wegging, bevor ich es auch tat. Acht Jahre. Das Linoleum macht mich wahnsinnig. Diese Ecke biegt sich am Rand meines Gesichtsfeldes hoch; ich versuche sie zu ignorieren, aber sie ist immer da. Ich ziehe daran, und das Linoleum lässt sich mühelos anheben, so wie sich ein dickes Etikett von einer Plastikflasche lösen lässt. Eine Kolonie von Silberfischchen schwärmt auseinander, vom hellen Licht hierhin und dorthin getrieben. Ich muss rückwärts aus der Küche gehen, nur um weiterzuziehen, und ich höre, wie die Kanten unter den Küchengeräten hochploppen. Nur die letzte Ecke will einfach nicht. Ich schwitze schon, ich reiße und fluche, aber der schwere Kühlschrank hält sie fest. Ich lasse los, und das Linoleum rollt zurück, fällt klatschend auf den Estrich wie eine weggeworfene Schlange.
Im Zimmer der Jungs rieche ich Andys erdig weichen Geruch, als ich mich auf seinem Bett zusammenrolle. Unter der zerwühlten Decke schaut ein Ohr seines Knuddelbären hervor. Ich reibe das Ohr zwischen Daumen und Zeigefinger, wie Andy, wenn er einschläft, und ich erkenne das rhythmische Behagen, das darin liegt. Die seidigen Ränder gehen in die verschlissene,
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