Am Ufer (German Edition)
verspeist gerade deine Hoden, paniert (viel leckerer als Stierhoden, habe er den Guardias, die ihn festnahmen, erklärt, heißt es am nächsten Tag in der Presse); wenn du, statt als Opfer herzuhalten, es wagst, selbst der Zerstückler zu sein, ist ein Porträtfoto in der Zeitung dir sicher (und dazu die Schlagzeile: KANNIBALE ASS DIE HODEN dieses Mannes. Erregung beim Leser: Wie sahen die aus? Reichten sie für eine ganze Mahlzeit? Was für ein Rezept wählte der Verbrecher?), doch, ehrlich gesagt, der Preis ist sehr hoch. Das Foto macht das nicht wett, selbst wenn das ganze Familienalbum reinkommt und dein Fall Anlass für eine Fernsehdebatte ist über die Unsicherheit der Bürger angesichts neuartiger Verbrechen, über Serienmorde oder zeitgenössischen Kannibalismus. Oder man diskutiert am runden Tisch unter Gastronomen und Ernährungswissenschaftlern über die Vorteile des Menschenfleischs gegenüber dem Lammfleisch, was Geschmack und Nährwert betrifft, zitiert die Leidenschaft der Mayas, der Ka riben und einiger Stämme in Afrika oder Polynesien für diese Köstlichkeit, die in unseren Tagen nur wenigen Privilegierten zuteilwird. – Ein Zahlungsunfähiger kann nur aus der Gewalt Honig saugen oder, wenn er ein gutartiger Mensch ist, aus der Verwaltung seiner Leiche. In der Dritten Welt gibt es Leute, die ein Auge oder eine Niere verkaufen, um bis zum Monatsende zu kommen. Die werden stückweise verkauft.«
Carlos:
»Dein gesamtes Arbeitsleben ist nicht so viel wert wie das, was Freixenet zum Jahresende an Werbung ausgibt. Selbstmord und Gewalt,die Rache der Armen: Ihr vermarktet die einzige Firma, deren Inhaber ich bin – diesen Werkzeug-Körper, den ihr als Arbeitskraft schlecht bezahlt –, also seht, wo ihr bleibt. Heute war ich länger im Fernsehen als Coca-Cola. Die Angehörigen der Opfer versammeln sich jedes Jahr und stellen in memoriam Kerzen und Blumen auf und denken dabei auch an mich, den Scharfrichter. Sie wollen, dass mein verfluchter Name nie vergessen wird. Aber bitte, sehr verbunden, auch deshalb, weil diese explosive Vervielfachung meiner Arbeitskraft – wir reden vom eigenen Tod und von dem einer ganzen Reihe anderer, also bitte schön – meine Witwe und meine Kinder begünstigt, die, bei guter Beratung, ein kleines Kapital daraus schlagen können, wenn sie in den folgenden Wochen zerknirscht an mehreren Reality-Formaten teilnehmen. VERZEIHT! BITTET DIE FAMILIE DES MEHRFACHEN MÖRDERS, DER SEINE NACHBARN VERSPEISTE. DAS INTIMLEBEN DES MONSTERS. ES SPRICHT DIE WITWE . Sie führen die grundlose Entlassung ein, den unsicheren Arbeitsplatz oder schicken dich gleich in die Arbeitslosigkeit, und du antwortest ihnen mit dem Einsatz deiner exponentiell vervielfachten Arbeitskraft. EXKLUSIV: DER ABSCHIEDSBRIEF DES MONSTERS AN SEINE TOCHTER .«
Justino:
»Noch besser ist es, wenn sie dich nicht gleich fassen. Das verlängert das Spiel: BLUTRüNSTIGER IRRER LÄUFT FREI HERUM . Das etwa zwei Wochen lang. Zwei oder drei kleinere Attentate, ein paar harmlose Kracher, die Polizei in Alarmbereitschaft, danach die große suizidale Explosion. Und in der Folge, das weiß man, bist du zum Helden der Interviews geworden, man spricht über dich in den Talkshows. Der Psychiater Giménez de la Pantera aus Córdoba enthüllt die Persönlichkeit des Selbstmörders, der Kinderkrippen-Fall. Heute Abend, EXKLUSIV in Tele 8. Ist absolute Sicherheit möglich, ohne die Spielregeln der Demokratie zu unterlaufen? Sind Freiheit und Sicherheit überhaupt zu vereinbaren? Eine spannende Diskussion zwischen Richter Camarón de la Ventisca undder Ethikprofessorin Eloisa de Bracamonte, moderiert von Mercedes Corbera.«
Der gute Carlos macht sich Sorgen um die Zukunft des Mörders als Opfer:
»Traurig ist nur, wenn man dich da zerfetzt rausholt, die Gedärme über den Boden verteilt, dann erregst du eher Ekel als Mitleid …«
Justino:
»Glaub das nicht. Die Leute sehen gerne ein gutes Filet oder ein Entrecote im Schaufenster einer Metzgerei, sie betrachten im Supermarkt verzückt diese Stücke, die in Krisenzeiten nicht in die Tüte kommen. Die Neuruinierten träumen davon, wie der ewig hungrige Carpanta aus dem Comic der Nachkriegszeit von einem Brathähnchen träumte. Ein Zerstückelter im Fernsehen ist ein Gratisangebot. Die Leute können es sich erlauben, es konsumieren und dann – das ist der größte Genuss – den anderen von ihrem kannibalistischen Akt erzählen: Hast du den Typen gesehen, den sie gestern im
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