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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
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Labyrinth aus Wasser, Schlamm und Schilf unter Kontrolle zu halten. Sie haben die Vegetation in Flammen gesetzt: Sie wollten die Männer ersticken, sie aus ihren Höhlen locken, als wären sie Ungeziefer (sie waren es), sie haben die Hunde losgelassen, Patrouillen geschickt, die im Schlamm wateten, aber die Suchaktionen zwischen Weihern, Schlammfeldern und den falschen Inselchen, die nur aus im Tiefen wurzelnden Gewächsen bestehen oder aus pflanzlicher Masse, die herumtreibt, erwiesen sich als zu kostspielig, und letzten Endes stellten die acht oder zehn Desperados, die dort Zuflucht gesucht hatten, keinerlei Bedrohung dar, es handelte sich nicht – wie an anderen Orten – um Guerilleros, sondern um eine Handvoll eingekreister Flüchtlinge: verzweifelte Robinsone, für die Welt toter als die Toten von vor vielen Jahren, deren Fotos und Namen die Nachkommen auf den Grabsteinen des Friedhofs betrachten konnten. Auch sehr viel vergessener. Und das obwohl zwei oder drei Frauen sich weiter dorthin trauten, um heimlich jemanden zu besuchen, ihren Mann, ihren Verlobten. Die Nachbarn sahen, wie sie sich auf den Wegen verloren und ein paar Tage später in der Abenddämmerung wiederkamen. Amphibische Geschöpfe, von denen wir Kinder dann und wann im Vorbeigehen reden hörten, zu einer Zeit, als wahrscheinlich keines von ihnen mehr lebte. Wir stellten sie uns mit Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehen vor, vielleicht mit Schuppen besetzt, so wie das leidende Wassertier, das ich einige Jahre später in einem Film gesehen habe,
Der Schrecken vom Amazonas
; Geschöpfe, die den Leiden einesTierlebens ausgesetzt waren. Manche haben es vorgezogen, sich zu erschießen. Die Revol vermündung an der Schläfe oder den Gewehrlauf im Mund; sie holten den großen Zeh aus dem Stoffschuh (wahrscheinlich liefen sie bereits barfuß, der Hanf der Sohlen war wohl schon lang ein Opfer der Feuchtigkeit geworden) und drückten damit auf den Abzug. Die Genossen begruben sie irgendwo, oder aber ihre Leichen blieben im Freien liegen, wurden von allerlei Tierchen abgenagt und die Knochen mit der Zeit von Schlamm und Unkraut bedeckt. Aber das war nicht genau die Geschichte, die mein Vater im Gedächtnis bewahrte. Für ihn war das Leben der Flüchtlinge im Sumpfgelände von einer nobleren Aura umgeben. Ich bemerkte Genugtuung in seinen Worten, als er mir von den Flüchtlingen erzählte, die sich den Schuss in die Schläfe oder in den Mund gegeben hatten: Es waren keine armen Kreaturen, von der Verzweiflung besiegt, sondern die einzigen Bewohner des Gebiets, die ihre Statur als Mann bewahrt hatten. Schlammverkrustet, bärtig, halb nackt, den Körper notdürftig mit Lumpen bedeckt, der eine oder andere Lendenschurz, aus Resten alter Kleider oder aus Blättern geflochten. Er hatte keinen Zugang gehabt – oder darauf verzichtet – zu diesem Augenblick, in dem du absoluter Herr über dich selbst bist, der Moment, in dem du mit den Zähnen den Lauf fixierst und die Lippen das Metall küssen. Dies war – für meinen Vater – der Augenblick, in dem der Mensch das Göttliche streift. Die einzige absolute Berührung mit der Freiheit, die ihm verliehen worden war. Wir waren es – die Familie –, die ihn gezwungen hatten, als geminderter Mann ein erbärmliches Leben zu führen. Heute gebe ich dir recht, Vater: Nie wirst du so sehr dein eigener Herr sein, du wirst dem nie näher kommen, dich selbst zu besitzen, Herr über deinen Terminkalender zu sein. Du hast akzeptiert, dass du dem toten Kind nicht wieder die Augen öffnen kannst, das schafft auch kein Gott, aber du entreißt dem Tod seine willkürliche Macht, du gibst eine Ordnung vor, eine Zeit, ein Datum: Ich kann nicht über mein Leben bestimmen, aber über die Dauer meines Lebens,ich bin Eigentümer des entscheidenden Moments. Dem Menschen ist keine höhere Kraft verliehen worden, er kann nur für immer die offen gebliebenen Augen schließen. Was auch immer die Priester, Politiker und Philosophen sagen, der Mensch ist kein Träger des Lichts, sondern ein finsterer Erzeuger von Schatten. Unfähig, Leben zu geben (wie komm ich darauf, ich hätte ja fast selbst Leben geschaffen, und die Menschheit hört nicht auf, sich zu vermehren. Aber ich weiß schon, was ich sage), ist er fähig, im Akkord zu töten. Das ist die größte Macht, die ein Mensch entfalten kann. Das Leben nehmen. Auf den Abzug drücken und sehen, wie der Vogel, der den Himmel durchschnitt, wie ein Stein fällt und den Spiegel des

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