Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
wieder da.«
»Ich weiß.«
»Woher?«
»Du hast gesungen, Peabody. Die Tür war zwar geschlossen, aber deine Stimme ist verflucht durchdringend, wenn du gut gelaunt bist.«
»Setz dich und ruh dich aus. Du siehst müde aus.«
Emerson fuhr sich mit der Hand über sein stoppliges Kinn und sank seufzend in einen Sessel. »Jetzt merke ich erst, wie müde ich bin. Als ich dich singen hörte und Nefret nicht im Salon vorfand, hoffte ich – wollte es aber nicht recht glauben. Ich habe mehrere Minuten vor ihrer Zimmertür gelauscht, bis ich irgendwann seine Stimme hörte.«
»Ach, mein geliebter Emerson«, hob ich an.
»Pah«, Emerson räusperte sich geräuschvoll. »Ende gut, alles gut, wie du immer so schön sagst. Ich wünschte, dir fielen mal ein paar originellere Aphorismen ein. Hat er erzählt, was passiert ist?«
»Noch nicht.«
Eine Prozession von Kellnern strebte mit Tabletts durch die Tür; während sie das Frühstück auf den Tisch stellten, gesellten Ramses und Nefret sich zu uns. Emerson begrüßte seinen Sohn so gleichmütig, als wäre er nicht stundenlang besorgt um ihn gewesen, und Ramses reagierte mit einem ebenso beiläufigen »Guten Morgen, Sir«. Emerson fixierte Ramses’ verbundene Hände. »Sinnlos zu erwarten, dass du mal ohne Blessuren zurückkommst«, grummelte er. »Äh – kannst du Messer und Gabel halten, mein Junge? Wenn du willst, schneide ich dir …«
»Nicht nötig, Sir, danke. Ich hoffe, du hattest meinetwegen nicht allzu viel Ärger.«
»Den hatte Russell«, sagte Emerson nicht ohne Genugtuung. Er hatte etwas gegen besagten Gentleman, weil dieser uns einmal ausgetrickst hatte. »Am besten informiere ich ihn direkt, dass er die Suche abblasen kann, bevor er noch hier einfällt.« Er trat an den Sekretär und kritzelte ein paar Wörter auf einen Hotelbogen. »Bring das zum Empfang und lass es umgehend weiterleiten«, wies er einen der Kellner an. »Und der Rest von euch Burschen verschwindet gleich mit ihm. So, Ramses, und jetzt zu deiner Geschichte.«
Ich habe wirklich eine ganze Reihe bizarrer Geschichten gehört und selbst erlebt. Doch was Ramses uns da auftischte, rangierte ziemlich oben auf der Skala. Er ließ sich nicht unterbrechen, nahm sich keine Zeit zum Essen. Er beteuerte, er habe keinen Hunger.
Nefret ergriff als Erste das Wort. »Kein Wunder, dass du nicht hungrig bist. Was war in der Kohlenpfanne – Opium?«
»Opium und irgendwas, das ich nicht identifizieren konnte.«
»Eine weitere Droge?«
»Ganz bestimmt.« Ramses hatte die Gabel in die Hand genommen. Jetzt knallte er sie ungehalten auf den Tisch. »Du glaubst mir nicht, oder? Keiner von euch? Ihr denkt, das Ganze war eine Halluzination.«
»Wie sollte man es auch anders erklären?«, fragte Nefret mit hochrotem Kopf. »Ein Raum, möbliert wie ein Bordell, und die unsterbliche Hathor in ihrer jugendlichen Schönheit verspricht dir …«
»Na, na«, unterbrach ich sie. Ramses’ Gesicht war ebenso rot angelaufen wie ihres, und er wollte heftig protestieren. »Wir sind alle übernächtigt. Offensichtlich hat Ramses nicht die Göttin gesehen, sondern eine Frau, die wie Hathor verkleidet war. Und vergleichbar möblierte Räumlichkeiten findet man in Kairo häufiger. Verflixt«, erregte ich mich. »Ich hätte schon eher darauf kommen müssen. Könntest du das Haus wieder finden, Ramses?«
»Das bezweifle ich. Ich habe keine Ahnung, wie ich dort hingekommen bin. Ich weiß nur noch, dass man mich gewürgt hat.«
»An deinem Hals sind keine Würgemale«, stellte Nefret fest, ihre Stimme seltsam sachlich.
»Muss ich dich daran erinnern«, sagte Ramses in dem gleichen Ton, »dass weder viel Druck noch Zeit erforderlich sind, um jemanden auszuschalten, wenn man weiß, wie es geht? Andererseits kann ich mir das natürlich auch eingebildet haben.«
»Trotzdem, vielleicht sollten wir versuchen, das Haus zu finden«, sagte ich rasch. »Als du es verlassen hast …«
»War ich in einer solchen Hektik, dass ich nicht darauf geachtet habe, wo ich hinging, und außerdem war ich noch etwas benebelt. Wie auch immer, sie hatten Zeit genug um zu verschwinden.«
»Es müssen wenigstens zwei gewesen sein«, sinnierte ich. »Einmal angenommen, der Bettler und dein Angreifer – und dieses schemenhafte Etwas – waren ein und dieselbe Person. Was nicht unbedingt zutreffen muss.«
Nefret beobachtete Ramses, der sich auf sein Frühstück konzentrierte. »Ich wollte gewiss nicht den Eindruck erwecken, dass ich Ramses nicht
Weitere Kostenlose Bücher