Amelia Peabody 15: Der Herr des Sturms
noch ungefähr drei Meter entfernt, als François Justin bei den Schultern fasste und an ihm zerrte. Emerson hielt inne. Der Kopf des Jungen schnellte vor und zurück und sein Tropenhelm fiel zu Boden. Er schrie und kämpfte weiterhin. François ließ von ihm ab und ging Emerson an die Gurgel. Mit ihren ineinander verkeilten Gliedmaßen erinnerten mich die drei an die Laokoongruppe. Emerson entwand sich ihm, weil er, wie er später erklärte, erkannte, dass der Kampf womöglich noch den Jungen verletzt hätte; doch als er zurückwich, fiel er der Länge nach hin und rollte über den steilen Abhang geradewegs in einen Schutthaufen.
Alarmiert rannten die anderen aus unserer Gruppe zum Fuß des Hügels, allen voran Selim. Ein rascher Blick dokumentierte mir, dass Emerson sich wieder aufrappelte, trotz allseitiger Bemühungen, ihn davon abzuhalten. Ein Schwall ohrenbetäubender Flüche und Verwünschungen bewies mir, dass zumindest seine Stimmgewalt nicht gelitten hatte. Ich hätte ihm liebend gern beigestanden, wollte den Jungen aber nicht verlassen. Justin hatte seinen Anfall inzwischen überstanden und klopfte sich seelenruhig den Staub von der Jacke. Er lächelte mich verwirrt an.
»Was ist mit Mr. Emerson passiert?«, fragte er arglos. »Er ist gestürzt«, erwiderte ich. »Ich denke, Ihr Begleiter hat ihn zu Fall gebracht.«
»Schande über dich, François«, empörte sich Justin. »Das hättest du nicht tun dürfen. Es war falsch von dir.«
»Er hat dir wehgetan«, murmelte der Bursche.
»Hat er das? Bestimmt nicht; er scheint mir ein sehr fürsorglicher Mensch. Ich hoffe, er ist nicht verletzt.«
»Ich auch«, zischte ich mit einem langen, strafenden Blick auf François.
Der ungeschlachte François wirkte gewiss nicht wie ein Unschuldslamm, dennoch schien er irgendwie reumütig. »Es war ein Unfall«, murmelte er. »Ich wollte ihn nicht verletzen. Aber niemand fasst mir den jungen Herrn an!«
»Ich werde ihn jetzt anfassen«, sagte ich fest. »Nehmen Sie meine Hand, und wir werden gemeinsam hinuntergehen. Bleiben Sie ein Stück zurück, François, wir wollen doch keinen weiteren Unfall, oder?«
Der Junge fasste vertrauensvoll meine Hand und ließ sich von mir auf den Pfad führen. Er war größer als ich, aber schlanker. Der kurze, heftige Anfall war vergessen; sein Gesicht wirkte wieder ganz unverkrampft.
»Sie hätten dort nicht hinaufgehen sollen, Justin«, tadelte ich.
»Ich wollte mir die Gräber anschauen.«
»Das wäre noch gefährlicher gewesen als der Pfad. Einige Stollen sind offen; ein Sturz kann zu ernsten Verletzungen führen. Versprechen Sie mir, dass Sie nicht mehr dorthin gehen.«
»Kann ich mir denn den Tempel ansehen? Es ist ein Hathor-Tempel. Sie ist eine wunderschöne Göttin, genau wie die andere Mrs. Emerson. Kommt sie gelegentlich her?«
Gelinde entsetzt schwante mir, dass er nicht von Nefret sprach.
»Nein, ich glaube nicht, Justin.«
»Der Dragoman hat aber gesagt, dass sie herkommt. An Vollmondnächten. Er hat sie schon gesehen, und etliche seiner Freunde auch.«
Ich nahm mir fest vor, ein Wörtchen mit besagtem Burschen zu reden. Es stand ihm wahrlich nicht zu, dem Jungen solche Flausen in den Kopf zu setzen. Vermutlich sollte ich auch mit Mrs. Fitzroyce sprechen. Wie konnte sie ihren halbwüchsigen Enkel einem Raubein wie François anvertrauen? Zweifellos wachte er über den Jungen, sein Urteilsvermögen hingegen ließ einiges zu wünschen übrig. In gewisser Weise war er ebenso unzurechnungsfähig wie Justin.
Emerson stakste auf uns zu. Aus Angst, dass er den Kampf erneut eröffnen könnte, stellte ich mich zwischen ihn und François.
»Wie du aussiehst«, seufzte ich. »Wieder ein Hemd … und diesmal ist es nicht nur das Hemd, du hast dir auch noch die Hose zerfetzt!«
»Besser meine Hose als mein Kopf«, grummelte Emerson. »Wie du siehst, mein Schatz, bin ich relativ unversehrt. Alles in Ordnung mit dem Jungen?«
Justin schrak zurück. »Er blutet ja. Ich kann kein Blut sehen!«
Besorgt, dass der Junge einen weiteren Anfall erleiden könnte, zwang ich mich zu einem Lächeln.
»Er ist nicht schlimm verletzt, Justin.«
»Kein bisschen«, bekräftigte Emerson launig. »Der Trick bei einem solchen Sturz ist, den Kopf zu schützen und sich rollen zu lassen, statt …«
»Wir brauchen keinen Vortrag über Selbstverteidigungstechniken, Emerson«, fiel ich ihm ins Wort. »Komm in den Schatten und lass Nefret die Schürfwunden desinfizieren. Justin, Sie kehren
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