Amerika!: Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten (German Edition)
trugen, verabredete man sich nicht – bis zur Bürgerrechtsbewegung und den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Sein Bruder hatte ihn mit Geschichten von den Haymarket-Märtyrern, dem legendären Arbeiterführer und Sänger Joe Hill, den großen Streiks der zehner Jahre und dem Traumland am anderen Ende der Welt, der Sowjetunion, großgezogen. Und er lernte das ganze Liedrepertoire der amerikanischen Arbeiterbewegung.
»That’s the Rebel Girl. That’s the Rebel Girl.
To the working class she’s a precious pearl.
She brings courage, pride and joy
To the Fighting Rebel Boy.«
Sein bester Freund in all den Jahren war Milton Wolff, der als junger Mann einmal verhaftet worden war, weil er im New Yorker Hafen die Hakenkreuzflagge eines deutschen Schiffs zerrissen hatte. Als Anfang 1937 ein unbekannter Mann während einer Versammlung der Young Communist League zum Kampf für die Republik in Spanien aufrief, war Milton der Einzige, der sich meldete. Er kam im Frühjahr 1937 in Spanien an und wurde nach etwas mehr als einem Jahr der letzte Kommandeur des Bataillons der amerikanischen Freiwilligen, der Abraham-Lincoln-Brigade. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er für das OSS , das Office of Strategic Services, dem Vorgänger der CIA , wo er unter anderem für die Kontakte zum kommunistischen Widerstand in Italien und Frankreich zuständig war.
Die amerikanische Arbeiterbewegung lässt sich nicht mit der europäischen vergleichen. Zu vielen Amerikanern galten kollektive Aktionen als unamerikanisch, sie passten einfach nicht zu dieser Nation von Individualisten. Die »Roten« wurden heftig bekämpft.
Andererseits waren Männer wie Milton und Lou auch keine Einzelfälle. Allein die Kommunistische Partei der USA und einige Abspaltungen hatten in den dreißiger und vierziger Jahren 60 000 bis 70 000 Mitglieder. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg bewegte sich bei Kundgebungen zum 1. Mai eine kompakte Masse von Demonstranten mit roten Fahnen und Musik durch die Fifth Avenue. Zehn Jahre später wagte fast niemand mehr offen zu sagen, dass er einmal irgendeiner linken Partei angehört hatte. Man konnte gerade noch Mitglied einer Gewerkschaft sein. Selbst als ich in den achtziger Jahren ältere kommunistische Aktivisten interviewte, wollten sie sich nicht zu ihrer früheren politischen Identität bekennen. Sie räumten höchstens ein, dass sie mit den Kommunisten »sympathisiert« oder ihnen »nahegestanden« hätten.
»Glaubt man den Geschichtsbüchern, hat der Kalte Krieg 1948 begonnen«, sagte Milton später, »für mich fing das alles schon 1945 an. Gegen Franco unternahm man nichts, aber Leute wie ich, die gegen ihn gekämpft hatten, wurden gleich nach dem Krieg aus dem Militär entlassen. Unsere Dienstakten wurden mit dem Stempel PA versehen, Premature Anti-fascist , voreiliger Antifaschist.«
Er selbst entfremdete sich bald der Kommunistischen Partei, wie nach ihm auch Lou, beide waren zu eigensinnig für den starren Apparat. Dennoch traf die McCarthy-Hetze der fünfziger Jahre auch sie auf unterschiedliche Weise.
»Sie brauchten uns gar nicht alle einzusperren«, sagte einer ihrer Freunde. »Es reichte, dass wir jahrelang unsere ganze Energie in ein paar banale Probleme stecken mussten: Wie vermeiden wir, ins Gefängnis zu kommen? Wie halten wir unsere Familien zusammen? So entstand eine Lücke von einer ganzen Generation, und diese Lücke zu schließen haben wir nicht mehr geschafft. Das war der große Erfolg von McCarthy und Konsorten. Und wir haben uns nie mehr davon erholt.«
3
Im benachbarten Orinda, wo wir bei Freunden wohnen, tobt im Herbst 2010 ein anderer Klassenkampf: der Krieg gegen die Laubbläser. Orinda ist eine Schlafstadt mit etwa zwanzigtausend Einwohnern im Hügelland zehn Meilen nordöstlich von Oakland. Die Häuser – durchschnittlicher Kaufpreis 1,3 Millionen Dollar – sind weit über das Gelände verteilt, dazwischen stehen alte Eichen, Mammutbäume und Lärchen; wer hier wohnt, gehört zu den hochqualifizierten Besserverdienern, die Kinder besuchen erstklassige Schulen. Tagsüber hört man für gewöhnlich nichts als Vögel, Kinder, manchmal in der Ferne ein Auto. Und dann werden plötzlich die Laubbläser angeworfen. Durch die Wohngegend schallt ein pfeifendes Dröhnen, Trupps von Mexikanern blasen die Gärten laubfrei, den ganzen Nachmittag. Übermorgen ist die andere Straßenseite an der Reihe. Und nächste Woche geht es wieder von vorne los.
Einer der Nachbarn, wütend über den
Weitere Kostenlose Bücher