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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Plakette der Pioneer-Sonden forderte Stellungnahmen der verschiedensten Gruppen heraus. Frauen wollten wissen, warumdie Frau nicht ebenfalls winkt. Homosexuelle wollten wissen, warum schwule Partnerschaften nicht repräsentiert waren. Der Kunstkritiker Ernst Gombrich schrieb im Scientific American, dass nur Aliens mit einem optischen System, das genau im selben Bereich des Spektrums funktioniert wie unser eigenes, das Bild überhaupt wahrnehmen könnten.

    Am hitzigsten debattierte man die Nacktheit der Figuren und die (Un-)Sichtbarkeit ihrer Geschlechtsorgane. Die beiden Figuren geben sich nicht die Hand, wie ursprünglich vorgesehen, sondern sie halten etwas Abstand voneinander, damit sie nicht als ein einziger Hermaphrodit missverstanden werden. Doch außer diesem subtilen Hinweis deutet nichts darauf hin, dass unsere Spezies auf die Sexualität angewiesen ist, was angesichts der Tatsache, dass dies eine der bestimmenden Facetten des irdischen Lebens ist, schon eine bemerkenswerte Lücke darstellt. Das Bild erschien in vielen Zeitungenund sah sich dem Vorwurf der Pornografie ausgesetzt. Der Philadelphia Inquirer entfernte vorsichtigerweise die Brustwarzen der Frau und den Penis des Mannes. Die Chicago Sun Times ließ den Penis von Ausgabe zu Ausgabe schrumpfen, bis nichts mehr von ihm übrig war. Andererseits löste die unvollständige Darstellung der Frau den Vorwurf der Zensur aus. Sagan verteidigte das Fehlen einer die Vagina andeutenden Linie mit dem Hinweis auf die Kunstgeschichte, doch haben er und seine Frau ihre Entscheidungen sicher auch mit Rücksicht auf die puritanische Einstellung ihrer NASA-Chefs getroffen.
    Sagan berief sich vor allem auf griechische Statuen, doch stellten die Griechen außer der Schönheitsgöttin Aphrodite beinahe keine Frauen dar. Die meisten antiken und neoklassischen Künstler umgingen das Thema durch die Pudica-Pose oder ein geschickt platziertes Tuch. Richtig ist allerdings auch, dass bei weiblichen Figuren ohne diese Schutzvorrichtungen ebenso wie bei den Pioneer- Bildern die Vagina normalerweise nicht angedeutet wird. Sagan hielt die Debatte für wichtig, weil sie uns zwinge, darüber nachzudenken, wie wir uns auch uns selbst gegenüber präsentieren wollen.
    Roland Barthes, ein französischer Philosoph des 20.

Jahrhunderts, erhob denselben Vorwurf der Unvollständigkeit in seinem Buch Mythen des Alltags gegenüber dem Pariser Striptease. Ihm zufolge wird die Frau gerade im Moment ihrer Nacktheit desexualisiert. (Man stelle sich die arme Tänzerin vor, die ihr Bestes gibt, während der weltberühmte Semiotikprofessor in Pullover und Tweedjacke sich Notizen macht.) „Man kann also sagen, daß es sich in einem gewissen Sinne um ein Schauspiel der Angst oder vielmehr des ,Mach mir Angst‘ handelt, als ob der Exotismus hier eine Art von köstlichem Schrecken bliebe, dessen rituelle Zeichen nur angekündigt zu werden brauchen, um die Idee des Sexus und zugleich deren Beschwörung hervorzurufen.“ Das Feigenblatt ist eine pflanzliche Barriere vor dem fleischlichen, tierischen Sex. Der diamantbesetzte G-String, der auf dem Höhepunkt des Striptease sichtbar wird, stellt Barthes zufolge eine mineralische Barriere dar. „Diesesletzte Dreieck versperrt durch seine reine geometrische Form, durch seine glänzende, harte Materie das Geschlecht wie ein Riegel …“
    Doch damit soll man sich nicht zufriedengeben. Der Dichter John Donne kommt in seiner Elegie „Auf seine zu Bett gehende Geliebte“ zum Zuge. Im dichterischen Striptease räumt er alle Hindernisse aus dem Weg: „Weg mit dem hellen Brustschild, das du sonst, / Zum Schutz vor zudringlichen Blicken trägst.“ Dann fallen Blankscheit, Gewand und Höschen, bis schließlich ...

    O mein Amerika, mein neues Land,
    mein Reich, gern nur mit einem Mann bemannt,
    mein Schacht voll edler Steine, meine Welt,
    die mir, seitdem ich sie entdeckt, gefällt.
    Ich liege auf April Ashleys Bett in ihrer Wohnung im Londoner Westen und durchstöbere den Pappkarton voller Erinnerungsstücke. Ich stoße auf jede Menge Zeitschriftenartikel: „Mein eigenartiges Leben, von April Ashley“, „Der Matrose als schöne Frau“, „Sex-OP – Mädchen heiratet wieder“, daneben Modelfotos und ein kalifornisches Autokennzeichen mit der Aufschrift „APRIL“. Ich suche die Ausweise, die – April hatte mit gebieterischer Handbewegung auf den Karton gezeigt – hier irgendwo sein müssen.
    April Ashley ist das Ergebnis einer der ersten in

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