Angel 01 - Die Engel
wollte.
Er sprach so sanft, mit hypnotischer Stimme. Dieser junger Mann, der so engelsgleich aussah, konnte doch gar nicht böse sein, oder? Und wenn er nicht böse war, na ja, dann musste er doch gut sein und das, was er sagte, richtig und anständig.
Sie erlagen seinem Zauber, nahmen seine Worte in sich auf und nickten sich gegenseitig zu: Ja, er hat Recht, warum sollten wir uns das gefallen lassen? Warum haben wir diese Barrikadenmentalität? Wir sollten das Gesetz selbst in die Hand nehmen und die Sachen auf unsere Art angehen. Wenn wir das nächste Mal sehen, wie jemand eine Handtasche klaut, einen Laden überfällt oder eine Wand besprüht, sollten wir ihn lynchen und ihn am nächsten Laternenmast oder Baum aufknüpfen. Wir sollten ihn an ein Auto binden und durch die Nachbarschaft schleifen. Danach wird er so etwas bestimmt nie wieder tun.
Die Predigt wurde immer aufwühlender und fütterte den primitiven Teil in ihnen, doch die Menge, die inzwischen in die Hunderte ging, hörte nur etwas, das sie für gesunden Menschenverstand hielt. Viel zu lange, wurde ihnen gesagt, hätten sie schon gelitten und die andere Wange hingehalten; jetzt, genau jetzt, sei die Zeit gekommen, aufzustehen und zurückzuschlagen. Die Worte des jungen Mannes drangen in den animalischen Teil ihres Wesens vor, den Mr. Hyde, der sich jetzt regte, erwachte und zuhörte. Das Biest in ihnen allen wuchs, erfüllte ihre Seelen und ihr Bewusstsein. Der reine Teil ihres Geistes löste sich und flog davon, zurück blieb nur der verdorbene, kranke Teil, der nun die Regie übernahm.
Man beschlagnahmte den Wagen eines Politkandidaten, dessen Lautsprechersystem es dem jungen Hitzkopf ermöglichte, bequem zu den Tausenden zu sprechen, zu denen die Menge vor ihm angeschwollen war. Er sagte ihnen, dass er gekommen sei, um sie zu retten – nicht vor der Sünde, sondern vor der Unterdrückung. Er war gekommen, um sie aus der Wildnis der Verfolgung in eine Zukunft zu führen, die frei von Angst war. Doch zunächst würde das Blut der Schuldigen und der Verantwortlichen die Straßen überschwemmen.
» Ihr müsst euch erheben und für das kämpfen, was euer ist, und dürft nicht zulassen, dass sich jemand zwischen euch und die Gerechtigkeit stellt.«
Sie jubelten wild. Jeder, der kritisch die Stimme erheben wollte, wurde vom Mob niedergebrüllt oder von jungen Männern und Frauen zum Schweigen gebracht, die irgendwie zum Team des Predigers zu gehören schienen. Sie waren als Individuen gekommen, doch sie erkannten einander sofort und sahen in dem Prediger eine verwandte Seele. Es war so, als hätten sie nur auf ihn gewartet, als wäre er eine Art Messias, der sie führen würde.
Ein Mannschaftswagen der Polizei traf ein; einige Polizisten stiegen aus und bahnten sich einen Weg durch die Menge nach vorne.
» Zeit, nach Hause zu gehen«, rief ein älterer Polizist. » Kommt schon, Leute, auf geht’s.«
Der Prediger schien irgendwie größer zu werden, und sein Gesicht wurde zu einer schrecklichen Maske. Jetzt war seine Stimme nicht mehr sanft. Er brüllte in sein Mikrofon: » Diese Polizisten sind korrupt. Sie nehmen Schmiergeld von der örtlichen Mafia an. Die Kriminellen benutzen sie, während wir voller Angst durch die Straßen wandern, in unseren Häusern sitzen, in unseren Betten liegen. Die Schuldigen kommen frei, während die Unschuldigen in Zellen geworfen und geschlagen werden, manchmal sogar zu Tode geprügelt, und zwar von genau den Menschen, die uns eigentlich beschützen sollten. Sie verdienen es, gesteinigt zu werden …«
Es waren nicht seine Worte, sondern der Ton in seiner Stimme, der den Mob durchdrehen ließ. Die Männer in Uniform wurden zu Boden gerissen, getreten und geschlagen, während sie versuchten, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Einer von ihnen, ein junger Constable, der nicht älter als zwanzig war, geriet in Panik, zog seinen Schlagstock und begann, damit um sich zu prügeln. Er wurde von den Bodyguards des Predigers gepackt und festgehalten. Zwei Frauen stemmten ihn in die Krone eines Baumes und erhängten ihn vor der plötzlich schweigenden Menge mit seinem eigenen Gürtel. Sein Gesicht war völlig verzerrt vor Angst, als er verzweifelt an dem Lederstrang an seinem Hals zerrte, bis seine Beine nicht mehr austraten, seine Augen glasig wurden und er erschlaffte.
Ein Teil der Menge löste sich auf und verschwand in den Seitenstraßen, offenbar entsetzt über das, was sie gerade gesehen hatten. Andere, die
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