Angels of the Dark: Verruchte Nächte
hervorgeholt hatte. Über die Jahre war er langsam, aber stetig gewachsen. Nach Zacharels Gespräch mit seiner Gottheit jedoch, als der Schnee von seinen Schwingen zu rieseln begonnen hatte, war die Geschwindigkeit aufs Vierfache angewachsen.
Er wusste, was das bedeutete, wohin es führen würde, doch er machte sich keine Sorgen. War sogar froh. Wenn er bei seiner Jahresmission versagte und aus dem Himmel geworfen würde, müsste er wenigstens nicht lange leiden.
„Ich frage mich, ob Annabelle auch dich fasziniert hätte.“
Er hielt inne, stellte sich die beiden zusammen vor. Ja, Annabelles Mut hätte den sanften Hadrenial begeistert. Hätten sie sich um sie gestritten?
Nein, entschied er. Denn Zacharel hätte sie aufgegeben. Das hatte er auch so vor – wenn er seiner Verantwortung Genüge getan hätte.
Mit großer Vorsicht stellte er die Urne auf seinen Nachttisch zurück und erhob sich. Er hätte das Ding auch in einer Luftfalte verbergen können, es so immer bei sich tragen. Doch andere Engel hätten seinen Bruder gerochen und Fragen gestellt, die er nicht beantworten wollte. Auch Dämonen hätten seinen Geruch wahrgenommen und versucht, ihn noch einmal zu zerstören.
Gedankenversunken zog er eine Robe über, bevor er langsamzu Annabelles Tür schritt. Dort hielt er inne, unsicher, ob er hineingehen sollte. Nachdem er ihr gestern zugesagt hatte, er würde ihr beibringen, wie man gegen Dämonen kämpfte, war er gegangen, zornig auf sich selbst.
Wie versprochen hatte er sie nicht eingeschlossen. Er hatte erwartet, sie würde nach ihm suchen, doch sie war an Ort und Stelle geblieben – und das hatte ihn noch zorniger gemacht.
Was stellte sie nur mit ihm an? Normalerweise war er ein Mann ohne jegliche Emotionen. Seit Jahrhunderten war er bekannt für seine innerliche wie äußerliche Kälte. Doch bei ihr hatte er das Gefühl, ständig an der Kante eines gefährlichen Abgrunds zu schwanken. Selbst jetzt war er angespannt, sein Kiefer schmerzte vom ununterbrochenen Zähneknirschen.
Die ganze Nacht lang hatte er darüber fantasiert, sie zu küssen. Sie tiefer, härter, besser zu küssen als der Mann, der vor ihm gekommen war. Hatte der Versuchung nachgegeben, von der er immer noch versuchte, sich einzureden, es wäre keine. Warum? Sie war nichts Besonderes. Eine lästige Verpflichtung, eine Bürde, die nur für kurze Zeit auf der Welt war. Es gab Tausende wie sie.
Stimmt das wirklich?
Gestern hatte er auf diese vollen rosa Lippen hinabgesehen und … sie begehrt. Noch nie hatte er Begehren verspürt. Vielleicht war es der Geschmack einer anderen Frau in seinem Mund, der sein Interesse am Küssen geweckt hatte, ein wachsendes Verlangen, das Erzwungene mit etwas freiwillig Gegebenem zu vergleichen. Vielleicht auch nicht.
Nach dem Bericht, den Thane ihm gestern gebracht hatte, war sein Verlangen nach Annabelle noch viel größer geworden. Unzählige Male war sie von Menschen wie Dämonen geschlagen worden, und doch war ihr Kampfgeist nicht gebrochen. Ihr großer Bruder hatte ihr furchtbar verletzende Briefe geschrieben, sie für ihre Taten verdammt, und doch hatte sie mit nichts als Güte und Verständnis geantwortet. Ärzte hatten sie eingesperrt, unter Drogen gesetzt, ihr nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt, doch sie hatte sich mit all ihrer Kraft gewehrt.
Nein, es gab nicht Tausende wie sie.
Er sollte sich von ihr abwenden, solange es noch ging; bevor er beschloss, seinen Plan in den Wind zu schießen, seinen gesunden Engelsverstand zu ignorieren und sie zu behalten – nur um sie später zu verlieren. Bevor er absichtlich einen Kollateralschaden verursachte, nur um sie zu rächen.
Nur noch eine kleine Weile würde Zacharel mit ihr zusammenbleiben müssen. Ein paar Wochen, vielleicht einige Monate – nicht länger als ein Jahr –, dann wäre sie in der Lage, sich dem Bösen im Kampf zu stellen, das sie verfolgte. Dafür würde er sorgen. Danach könnten ihre Wege sich trennen, und er müsste nie wieder an sie denken … Auch wenn er keine Ahnung hatte, wohin er sie bringen oder wie er sich in den Augen seiner Gottheit der Verantwortung für sie entledigen sollte. Doch damit würde er sich an einem anderen Tag befassen.
Entschlossen betrat er das Zimmer.
Sie saß auf der Bettkante. Als sie ihn bemerkte, sprang sie auf und ihr blauschwarzer Pferdeschwanz schwang hin und her. „Ich denke, es ist das Beste, wenn wir unsere Beziehung an dieser Stelle beenden“, waren die ersten Worte aus
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