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Animus

Animus

Titel: Animus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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wollen wir, dass Sie uns endlich reinen Wein einschenken. Wieso gibt es keine Zweier und Dreier? Was ist mit den Frauen passiert? Wir haben Sie schon oft danach gefragt, aber immer ausweichende Antworten bekommen. Das funktioniert nicht mehr, Professor. Irgendetwas geht vor. Wir haben ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.«
    Das hatte ich befürchtet. Mit der Wahrheit verhält es sich seltsam. In unserem Wertesystem nimmt sie einen hohen Rang ein. Wir behaupten, in ihren uneingeschränkten Besitz gelangen zu wollen. Aber wenn wir sie kennen, bereuen wir unsere Neugier. Mit Geheimnissen verhält es sich ähnlich absurd. Egal, ob man aufgrund seines Charakters begierig darauf ist, sie zu erfahren, oder sie, einer klugen Neigung zur Vorsicht folgend, lieber meidet: Ist man erst einmal im Besitz einer mit absoluter Verschwiegenheit zu behandelnden Information, so verspürt man nicht selten den schier unwiderstehlichen Drang, sie wieder loszuwerden.
    So schwankte ich zwischen der Erleichterung, endlich darüber reden zu müssen, und dem inneren Widerstand vor der Auseinandersetzung mit dem Grauenvollen, was ich erlebt hatte. Außerdem würde ich einen Teil meiner Last diesen beiden Frauen aufbürden, die schon genug zu ertragen hatten.
    »Ihr wisst nicht, was ihr von mir verlangt. Und euch selbst damit antut.« Ich schaute die beiden an und las in ihren Gesichtern, dass sie keine Ruhe geben würden.
    »Wir wollen die Wahrheit wissen«, wiederholte Katya.
    Ich bestellte für jeden noch einen Doppelten, den würden sie brauchen. Ich auch. Dann begann ich zu erzählen:
    »Es war vor vier Jahren. Damals gab es noch keine Freistellung der Sensoren. Alle unter Stufe Sieben waren in Roswell im Lager. Alle darüber, also die im Einsatz befindlichen Frauen, waren in der Nähe von Baltimore in einem Haus untergebracht. Nahe bei Washington, nicht weit weg von New York. Sie wurden mit Militärhubschraubern zu den Jobs geflogen. Sie lebten in einer schönen viktorianischen Villa mit Efeuranken an den Rotklinkermauern, einige Meilen außerhalb der Stadt inmitten eines großen Parks. Im Herbst, wenn die Blätter von den Bäumen fielen und der Rasen feucht dalag und Nebel aufstiegen, wirkte das Anwesen fast gespenstisch schön. Im unteren Stockwerk waren die Gemeinschaftsräume wie Bibliothek, Spiel- und Fernsehzimmer sowie der geräumige Speisesaal untergebracht. Im Keller befanden sich Labors, Küche und Wirtschaftsräume. Die Schatten wohnten im ersten Stockwerk, im zweiten die Frauen. Obwohl die Umgebung schön war und die Ausstattung der Zimmer luxuriös, fühlten sich die Frauen nicht wohl. Die Fenster im obersten Stock waren schmiedeeisern vergittert, das ganze Gelände, sowohl innerhalb des Hauses als auch im Park, war lückenlos mit Kameras bestückt. Ich war damals schon der festen Überzeugung, dass kein normaler Mensch, schon gar kein hypersensibler, mit einer permanenten Bewachungssituation klarkommen kann. Wer eine Arbeit ausführt, die einen permanent unnatürlich hohen Stresspegel verursacht, braucht als Kontrapunkt besonders viel Ruhe. Aber es musste erst etwas Schreckliches passieren, bevor die hohen Herren ein Einsehen hatten.
    Es geschah an Weihnachten. Ich hatte zwar ein Zimmer in der Villa, da ich manchmal drei, vier Tage und Nächte ununterbrochen dort war, aber an diesem Abend wollte ich nach Hause in meine Wohnung in Washington. Ich war völlig überarbeitet, hatte eine gefühlte Ewigkeit nicht geschlafen. Die beiden Fünfzehner, Cathy und Marla, fühlten sich seit Wochen elend, seit einigen Tagen hatte sich ihr Zustand besorgniserregend verschlimmert. Sie konnten keine Einsätze mehr bewältigen, ihre C15-Spiegel waren immens erhöht. Bei beiden traten heftige dissoziative Störungen auf. Meine Assistenten und ich suchten fieberhaft nach dem Auslöser und nach einem Mittel zur Stabilisierung ihres Hormonstatus, aber wir standen vor einem Rätsel. Ich war erschöpft, ausgebrannt und frustriert. An Heiligabend fuhr ich nach Hause. Ich wollte ein heißes Bad nehmen, einen Cognac trinken, endlich mal wieder ausschlafen und alles vergessen, zumindest für ein, zwei Nächte.
    Kaum war ich zu Hause angelangt, rief mein damaliger Erster Assistent an und schrie in völliger Panik ins Telefon, ich müsse sofort zurückkommen. Dann legte er auf. Ich rief sofort zurück, um mehr Informationen zu bekommen. Niemand hob ab. In höchster Unruhe griff ich zu meinem Mantel und machte mich auf den Rückweg. An jenem Abend

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