Animus
begann es zu schneien. Innerhalb weniger Minuten waren die Straßen von einer dünnen weißen Schicht bedeckt, zarte Pulverschneeflocken tanzten in den Lichtkegeln meiner Scheinwerfer. Ich konnte weder den Mittelstreifen noch die Randbegrenzung der Straße erkennen. Für die Wetterverhältnisse fuhr ich viel zu schnell, aber ich machte mir Sorgen um Cathy und Marla.
Es waren nicht viele Leute unterwegs, die meisten saßen zu Hause im Kreis der Familie vor Christmas-Bread und Wildgans in Cranberrysoße. Oder packten Geschenke aus. Ich weiß noch, dass mir auf der Fahrt die Frage durch den Kopf ging, was in meinem Leben wohl schiefgelaufen war, dass ich nicht auch mit Frau, Kindern und Enkelkindern unterm Weihnachtsbaum saß. Mit dieser Frage beschäftigte ich mich, um mich von meiner Sorge um die zwei Höchstrangigen abzulenken. Es gelang mir halbwegs, bis ich die Toreinfahrt der Villa durchquerte. Das Haus war hell erleuchtet. Als ich vor der Steintreppe hielt, riss mein Zweiter Assistent schon die Tür auf und schrie, dass Cathy und Marla kollabierten.
Wir rannten hinunter ins Labor. Sie hatten die beiden auf den Tischen festgeschnallt. Cathy und Marla zeigten exakt die gleichen Symptome. Sie schrien, bäumten sich auf und krümmten sich in ihren Fesseln, als ob sie Elektroschocks bekämen. Beide hatten Schaum vor dem Mund, ihre Augen traten ihnen aus den Höhlen und begannen einzubluten. Sie zerrten an den Fesseln, bis ihre Haut aufriss. Wir taten, was wir konnten, doch in Wirklichkeit wussten wir überhaupt nicht, was wir tun sollten. Es gab keine Lösung, keine Rettung, keine Hoffnung. Sie starben innerhalb einer Stunde. Unter entsetzlichen Qualen.«
An dieser Stelle versagte mir die Stimme. Ich griff nach meinem Glas, bemerkte abwesend, dass es leer war. Lucy und Katya sahen mich mit kalkweißen Mienen an. Eine Zeit lang brachten sie keinen Ton heraus. Das Johlen der betrunkenen Gäste am Tresen drang wie Hohn zu uns herüber. Lucy flüsterte brüchig: »Was war passiert?«
Ich gab dem Wirt ein Zeichen für eine neue Runde und fuhr fort: »Wir haben bei der anschließenden Autopsie und den biochemischen Analysen festgestellt, dass sich das C15 übermäßig an den Synapsen angelagert hatte. Die Synapsen sind Schaltstellen zur Übertragung von Informationen über die Nervenbahnen. Sie waren geradezu verklebt, lahmgelegt, manche auch wie angefressen. Dem Gehirn und allen Körperzellen sind dadurch pausenlos widersprüchliche Informationen zugegangen. Das ganze System ist zusammengebrochen. Ein Kollaps. Die beiden müssen Fürchterliches durchlitten haben …«
Ich trank meinen nächsten Whisky in einem Zug aus.
Katya malte mit zittrigen Fingern immer schneller werdende Kreise auf die Tischplatte. »Sie sagten vorhin im Restaurant, wir hätten leicht erhöhte C15-Werte. Ist das der Anfang von unserem Ende? Wissen Sie, was gegen diesen Kollaps getan werden kann? Sie haben das Problem doch sicher schon längst im Griff? Das mit den Synapsen ist doch keine Gefahr mehr, nicht wahr?«
Jetzt kam der Moment der Wahrheit. Ich konnte Lucy und Katya weiterhin belügen oder ein für alle Mal mit offenen Karten spielen und die Verantwortung für meine gottlosen Experimente übernehmen. Zumindest zum Teil. Ich entschied mich für schonungslose Ehrlichkeit: »Wir wissen nicht, was wir dagegen tun können. Noch nicht. Wir forschen seit vier Jahren unter Hochdruck. Mit Teilerfolgen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir eine Substanz entwickelt haben, die die völlige Auflösung der C15-Konzentration nach jedem Einsatz unterstützt. Eure Werte sind harmlos. Sie deuten nur auf leichte Überarbeitung hin. Die Kulmination, bei der es gefährlich wird, liegt fünfzigmal so hoch wie eure. Macht euch keine Sorgen. Ich verspreche euch hoch und heilig, dass euch nichts passieren wird.«
Als ich den beiden eröffnete, dass wir in den vier Jahren noch kein Gegenmittel gefunden hatten, umkrallte Katya ihr Glas, als wolle sie es zerdrücken. Die blanke Angst stand in ihren Augen. Wie in Trance hob sie ihr Glas und schüttete mir ihren Wodka ins Gesicht. Dann stand sie wankend auf und lief zur Toilette.
Lucy reichte mir wortlos ein Taschentuch.
Ich trocknete mir das Gesicht ab. »Ich kann Katya verstehen. Keiner von uns hat euch gesagt, welche Risiken ihr auf euch nehmt. Wir hatten keine Ahnung. Aber das macht es nicht besser.«
Lucy gab keine Antwort. Sie bestellte eine neue Runde.
Als Katya nach langen Minuten zurückkam, immer
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