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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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gewendet, hinzu
    und faßte ihn unter den Arm. Ljewin hätte sich gefreut, daran Geschmack zu finden; aber er konnte nicht begreifen,
    worum es sich handelte, und einige Schritte von den Redenden wegtretend, drückte er seinem Schwager sein Erstaunen
    darüber aus, weshalb der Gouvernements-Adelsmarschall gebeten werden sollte, wieder zu kandidieren.
    »O sancta simplicitas!« 1 erwiderte Stepan
    Arkadjewitsch und setzte ihm nun kurz und klar auseinander, wie die Sache stand.
    »Wenn, wie bei der vorigen Wahl, alle Kreise den Gouvernements-Adelsmarschall bäten zu kandidieren, dann würde
    er mit lauter weißen Kugeln gewählt werden. Das darf nicht geschehen. Jetzt aber sind acht Kreise willens, ihn um
    seine Kandidatur zu ersuchen; wenn nun zwei Kreise es ablehnen, sich an dieser Aufforderung zu beteiligen, so wird
    Snetkow möglicherweise auf seine Kandidatur verzichten. Und dann wird es der alten Partei vielleicht gelingen,
    einen anderen ihrer Anhänger durchzubringen, da dann unser ganzer Plan gestört ist. Aber wenn nur der eine Kreis
    Swijaschskis sich von jener Aufforderung ausschließt, dann wird Snetkow kandidieren. Er wird sogar eine Mehrheit
    erhalten; denn wir werden ihm absichtlich eine Anzahl von unseren Stimmen zukommen lassen, so daß die Gegenpartei
    in ihrer Rechnung irre wird und, wenn wir einen der Unsrigen als Kandidaten aufstellen, ihm auch ihrerseits eine
    Anzahl Stimmen zuwendet.«
    Ljewin verstand nun, aber noch nicht ganz, und wollte eben noch einige Fragen stellen, als auf einmal alle zu
    reden und zu lärmen begannen und in den großen Saal eilten.
    »Was ist los? Was? Wen? – Vertrauen sollen wir haben? Zu wem? Wieso? – Er schließt ihn aus? – Wir haben kein
    Vertrauen zu ihm. – Er will Flerow nicht zulassen. – Was schadet das, daß er sich im Anklagezustand befindet? – Auf
    die Art könnte er ja jeden ausschließen. Das ist gemein. – Da möchten wir doch mal das Gesetz sehen!« hörte Ljewin
    von verschiedenen Seiten durcheinanderrufen. Alle strebten eilig vorwärts, als ob sie etwas zu versäumen
    fürchteten, und mit ihnen begab sich auch Ljewin in den großen Saal und näherte sich mitten in dem dichten Schwarm
    der Edelleute dem Gouvernementstisch, an dem der Gouvernements-Adelsmarschall, Swijaschski und andere Parteiführer
    hitzig über etwas stritten.
Fußnoten
    1 (lat.) O heilige Einfalt!

28
    Ljewin stand ziemlich entfernt. Ein neben ihm stehender Edelmann, der schwer und mit krächzendem Geräusch
    atmete, und ein anderer, der mit seinen dicken Stiefelsohlen knarrte, hinderten ihn, deutlich zu hören. Er hörte
    von weitem nur die weiche Stimme des Adelsmarschalls, dann die kreischende jenes giftigen Edelmanns und darauf
    Swijaschskis Stimme. Sie stritten, soweit er daraus vernehmen konnte, über den Sinn eines Gesetzesparagraphen und
    über die Bedeutung der Worte: »gegen den eine gerichtliche Untersuchung eingeleitet ist.«
    Die Menge teilte sich, um Sergei Iwanowitsch, der zu dem Tische hingehen wollte, durchzulassen. Sergei
    Iwanowitsch wartete ab, bis der bissige Edelmann mit dem, was er sagen wollte, fertig war, und sagte dann, seiner
    Ansicht nach sei es das Sicherste, den Gesetzesparagraphen einzusehen; er ersuche den Sekretär, den Paragraphen
    aufzuschlagen. Es ergab sich, daß in dem Paragraphen gesagt war, im Falle einer Meinungsverschiedenheit habe
    Abstimmung durch Ballotage stattzufinden.
    Sergei Iwanowitsch las den Paragraphen vor und begann seinen Sinn zu erläutern; aber da unterbrach ihn ein
    hochgewachsener, dicker Gutsbesitzer mit etwas gekrümmter Haltung, mit gefärbtem Schnurrbart, in einer engen
    Uniform, auf deren Kragen hinten der überstehende Hals wie auf einer Stütze ruhte. Er trat an den Tisch heran,
    klopfte mit seinem Siegelring darauf und rief laut:
    »Abstimmen! Die Stimmkugeln her! Da ist nichts weiter zu reden! Die Stimmkugeln her!«
    Nun fingen auf einmal mehrere gleichzeitig an zu sprechen, und der hochgewachsene Edelmann mit dem Siegelring
    erboste sich immer mehr und schrie immer lauter. Aber es war nicht mehr zu verstehen, was er sagte.
    Er sagte ganz dasselbe, was Sergei Iwanowitsch beantragt hatte; aber augenscheinlich hatte er auf ihn und seine
    ganze Partei einen Haß, und dieses Gefühl des Hasses teilte sich nun seiner ganzen eigenen Partei mit, und dadurch
    wurde dann als Gegenwirkung auf der anderen Seite ein gleiches, obwohl in anständigerer Form sich äußerndes Gefühl
    der Erbitterung hervorgerufen. Es

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