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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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erhob sich ein Geschrei, und eine Minute lang herrschte ein solcher Lärm, daß der
    Gouvernements-Adelsmarschall um Ruhe bitten mußte.
    »Abstimmen, abstimmen! Wer ein Edelmann ist, versteht das auch ohne lange Auseinandersetzungen. – Wir vergießen
    unser Blut ... – Das Vertrauen des Monarchen ... – Den Adelsmarschall darf man nicht so kontrollieren; er ist doch
    kein Kommis! – Aber darum handelt es sich gar nicht! – Die Stimmkugeln her! So eine Gemeinheit!« wurde von allen
    Seiten in Grimm und Wut geschrien. Die Blicke und Gesichter waren noch grimmiger und wütender als die Worte und
    drückten einen unversöhnlichen Haß aus. Ljewin begriff gar nicht, worum es sich handelte, und war erstaunt über die
    Leidenschaftlichkeit, mit der die Frage, ob über Flerows Zulassung abgestimmt werden sollte oder nicht, behandelt
    wurde. Er hatte, wie ihm nachher Sergei Iwanowitsch auseinandersetzte, sich folgenden Gedanken nicht klargemacht:
    für das Gemeinwohl war es erforderlich, den Gouvernements-Adelsmarschall zu beseitigen; zur Beseitigung des
    Adelsmarschalls war Stimmenmehrheit erforderlich; um aber die Stimmenmehrheit zu haben, war es erforderlich, daß
    jenem Flerow das Stimmrecht zuerkannt wurde; und um Flerow für stimmfähig erklären zu können, war es erforderlich,
    den Gesetzesparagraphen in entsprechender Weise auszulegen.
    »Eine einzige Stimme kann die ganze Sache entscheiden, und wenn man dem Wohle der Gesamtheit dienen will, muß
    man entschlossen und folgerichtig sein«, schloß Sergei Iwanowitsch. Ljewin aber hatte sich das zu der Zeit, als
    sich der Vorgang abspielte, noch nicht klargemacht, und es war ihm peinlich, diese braven Männer, die er
    hochachtete, in so häßlicher, grimmiger Aufregung zu sehen. Um dieses peinliche Gefühl loszuwerden, ging er, ohne
    das Ende der Verhandlungen abzuwarten, hinaus in den kleinen Saal, wo sich niemand befand außer den Kellnern am
    Schanktisch. Beim Anblick der Kellner, die eifrig damit beschäftigt waren, das Geschirr abzuwaschen und
    abzutrocknen und Teller und Gläser aufzustellen, und beim Anblick ihrer ruhigen, frischen Gesichter empfand Ljewin
    ein unerwartetes Gefühl der Erleichterung, als wenn er aus einem übelriechenden Zimmer in die reine Luft
    hinausgetreten wäre. Er fing an, auf und ab zu gehen und sah mit Vergnügen den Kellnern zu. Namentlich gefiel ihm
    einer mit schon ergrautem Backenbart; er unterwies seine jüngeren Kollegen in der Kunst, Mundtücher zu falten, und
    hatte für die törichten Späße, die sie über ihn machten, nur den Ausdruck stillschweigender Geringschätzung. Ljewin
    hatte eben vor, mit dem alten Kellner ein Gespräch anzuknüpfen, als der Sekretär des adligen Vormundschaftsamtes,
    ein altes Männchen, dessen Besonderheit es war, sämtliche Edelleute des Gouvernements bei ihren Vornamen und
    Vatersnamen zu kennen, ihm dazwischenkam.
    »Wollen Sie die Güte haben zu kommen, Konstantin Dmitrijewitsch?« sagte er zu ihm. »Ihr Herr Bruder sucht Sie.
    Es wird abgestimmt.«
    Ljewin begab sich wieder in den großen Saal, nahm ein weißes Kügelchen in Empfang und ging unmittelbar hinter
    seinem Bruder Sergei Iwanowitsch zu dem Tische hin, neben dem mit bedeutsamer, spöttischer Miene Swijaschski stand,
    seinen Bart in der Faust zusammenfaßte und daran roch. Sergei Iwanowitsch steckte seine Hand in einen Kasten und
    legte seine Kugel irgendwohin; dann machte er Ljewin Platz, blieb aber neben ihm stehen. Ljewin trat heran; aber da
    er vollständig vergessen hatte, worum es sich handelte, so wandte er sich in seiner Verlegenheit an Sergei
    Iwanowitsch mit der Frage: »Wohin soll ich sie legen?« Er hatte leise gefragt, während in der Nähe gesprochen
    wurde, so daß er hatte hoffen können, seine Frage würde nicht gehört werden. Aber die Redenden verstummten gerade
    in dem Augenblicke, und die unpassende Frage wurde gehört. Sergei Iwanowitsch zog ein finsteres Gesicht.
    »Das hängt von der Überzeugung eines jeden ab«, antwortete er in strengem Ton.
    Einige lächelten. Ljewin wurde rot, steckte hastig die Hand unter das Tuch und legte die Kugel, da er sie in der
    rechten Hand hatte, nach rechts. Nachdem er das getan hatte, fiel ihm ein, daß er auch die linke Hand hätte unter
    das Tuch stecken müssen, und so tat er dies denn noch nachträglich, allerdings zu spät; er wurde noch verlegener
    und ging möglichst schnell in die hintersten Reihen zurück.
    »Einhundertsechsundzwanzig Stimmen für die

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