Anna Karenina
Berechtigung! Achtundneunzig Stimmen dagegen!« rief der Sekretär, der
das R nicht aussprechen konnte. Dann hörte man Gelächter: es hatten sich in dem Kasten noch ein Knopf und zwei
Nüsse gefunden. Der Edelmann war zugelassen worden; die neue Partei hatte gesiegt.
Aber die alte Partei erachtete sich nicht für besiegt. Ljewin hörte, daß Snetkow gebeten wurde zu kandidieren,
und sah, daß ein Schwarm von Edelleuten den Gouvernements-Adelsmarschall umringte, der etwas sagte. Ljewin trat
näher heran. Auf die Aufforderung der Edelleute antwortend, sprach Snetkow von dem Vertrauen des Adels, von der
Liebe, die man ihm entgegenbringe und die er nicht verdiene, da sein ganzes Verdienst darin bestehe, daß er treu
dem Adel ergeben sei, dem er in den zwölf Jahren seiner Diensttätigkeit sein Wirken gewidmet habe. Mehrere Male
wiederholte er die Worte: »Ich habe, soviel in meinen Kräften lag, mein Amt treu und redlich geführt; ich weiß Ihre
freundliche Gesinnung zu schätzen und danke Ihnen.«
Aber auf einmal hielt er inne, da Tränen seine Stimme hemmten, und verließ den Saal. Mochten nun diese Tränen
davon herrühren, daß er das Gefühl hatte, man lasse ihm nicht Gerechtigkeit widerfahren, oder kamen sie von seiner
Liebe zum Adel oder von der Gespanntheit der Lage, in der er sich befand, da er merkte, daß er von Feinden umgeben
sei: genug, seine Aufregung teilte sich auch anderen mit, die Mehrzahl der Edelleute war gerührt, und Ljewin
empfand eine gewisse Zärtlichkeit gegen Snetkow.
In der Tür prallte der Gouvernements-Adelsmarschall mit Ljewin zusammen.
»Pardon, entschuldigen Sie, bitte!« sagte er zu ihm, wie zu einem Unbekannten; als er dann aber Ljewin erkannte,
lächelte er schüchtern. Es kam Ljewin vor, als wollte Snetkow etwas sagen, sei aber vor Erregung nicht dazu
imstande. Als Ljewin den Ausdruck seines Gesichtes und die Haltung seiner ganzen Figur sah, wie er in seiner
Uniform, mit den Ordenssternen und den weißen, tressengeschmückten Hosen, hastig dahineilte, mußte er unwillkürlich
an ein gehetztes Wild denken, das merkt, daß es mit ihm zu Ende geht. Dieser Ausdruck im Gesicht des
Adelsmarschalls hatte für Ljewin besonders deshalb etwas Rührendes, weil er erst gestern in seiner
Vormundschaftssache bei ihm in seinem Hause gewesen war und ihn dort in seinem ganzen Glanze als guten
Familienvater gesehen hatte. Das große Haus mit den alten Familienmöbeln; die zwar nicht vornehmen und etwas
unsauberen, aber aufmerksamen alten Diener, augenscheinlich frühere Leibeigene, die ihren Herrn nicht gewechselt
hatten; die beleibte, gutherzige Hausfrau mit der Spitzenhaube und dem türkischen Schal, die ihre hübsche Enkelin,
eine Tochter ihrer Tochter, auf dem Arme hielt und liebkoste; der forsche Sohn, Schüler der sechsten
Gymnasialklasse, der eben aus der Schule kam und bei der Begrüßung seinem Vater die große Hand küßte; die
herzlichen, freundlichen Worte und Gebärden des Hausherrn: alles das hatte gestern in Ljewins Herzen unwillkürlich
ein Gefühl der Hochachtung und der Teilnahme für Snetkow hervorgerufen. Jetzt nun machte ihm der alte Mann einen
überaus rührenden, traurigen Eindruck, und er wollte ihm gern etwas Angenehmes sagen.
»Also Sie werden wieder unser Adelsmarschall werden?« sagte er.
»Schwerlich«, erwiderte der Adelsmarschall und blickte dabei ängstlich um sich. »Ich bin müde, ich bin schon zu
alt. Es sind Würdigere und Jüngere da als ich; mögen die das Amt übernehmen.«
Und der Adelsmarschall entfernte sich durch eine Seitentür.
Nun war der feierlichste Augenblick da. In wenigen Minuten sollte zur Wahl geschritten werden. Die Wortführer
der einen und der anderen Partei rechneten an den Fingern die zu erwartenden Ja und Nein aus.
Die Auseinandersetzung über Flerow hatte der neuen Partei nicht nur die Stimme Flerows eingebracht, sondern auch
noch einen Zeitgewinn, so daß sie versuchen konnten, drei Edelleute herbeizuschaffen, die durch die Ränke der alten
Partei der Möglichkeit beraubt worden waren, an den Wahlen teilzunehmen. Zwei Edelleute nämlich, die eine Schwäche
für alkoholische Getränke besaßen, waren von Snetkows Helfershelfern betrunken gemacht worden; desgleichen ein
dritter, dem sogar die Uniform weggenommen worden war.
Als dies die neue Partei erfahren hatte, benutzte sie die Zeit der Verhandlungen über Flerow dazu, in einer
Droschke einige der Ihrigen hinzuschicken, und es gelang, dem einen
Weitere Kostenlose Bücher