Anna Karenina
ihn vorbereiteten Anschlag in der Luft witterte und obgleich
er nicht von allen darum gebeten worden war, hatte er sich dennoch entschlossen zu kandidieren. Alles im Saale
verstummte; der Sekretär verkündete mit lauter Stimme, daß jetzt über die Wahl des Garde-Rittmeisters Michail
Stepanowitsch Snetkow zum Gouvernements-Adelsmarschall ballotiert werden solle.
Die Kreis-Adelsmarschälle traten mit Tellern, auf denen die Stimmkugeln lagen, von ihren Tischen an den
Gouvernementstisch, und die Wahl begann.
»Rechts hinlegen!« flüsterte Stepan Arkadjewitsch seinem Schwager Ljewin zu, als sie beide zusammen hinter dem
Adelsmarschall zum Tische hingingen. Aber Ljewin hatte jenes listige Verhalten, das ihm vorher auseinandergesetzt
worden war, jetzt schon wieder vergessen und fürchtete, Stepan Arkadjewitsch habe sich bei seiner Weisung: »Rechts
hinlegen!« geirrt. Snetkow war ja doch ein Gegner. Als er an den Kasten herantrat, hielt er die Kugel in der
rechten Hand; aber in der Meinung, daß dies falsch sei, nahm er die Kugel dicht vor dem Kasten in die linke Hand
und legte sie dann augenscheinlich nach links hin. Ein neben dem Kasten stehender Edelmann, der auf diesem Gebiete
eine besondere Kennerschaft besaß und an der bloßen Bewegung des Ellbogens erkannte, wohin ein jeder seine Kugel
legte, runzelte unwillkürlich die Stirn. Er hatte es bei Ljewin nicht nötig gehabt, seinen Scharfblick
anzustrengen.
Alles verstummte; man hörte das Geräusch beim Durchzählen der Kugeln. Dann verkündete eine einzelne laute Stimme
die Zahl der Ja und Nein.
Der Adelsmarschall war mit beträchtlicher Mehrheit wiedergewählt worden. Alle redeten lärmend durcheinander und
drängten ungestüm nach der Tür. Snetkow kam herein, und die Edelleute umringten ihn beglückwünschend.
»Nun, ist es jetzt zu Ende?« fragte Ljewin seinen Bruder.
»Das war nur der Anfang«, erwiderte an Sergei Iwanowitschs Stelle lächelnd Swijaschski. »Ein anderer Kandidat
kann noch mehr Stimmen erhalten.«
Das hatte Ljewin wieder ganz vergessen. Er besann sich nur, daß da irgendein besonders feiner Anschlag
vorbereitet war; aber worin der eigentlich bestand, darüber sein Gedächtnis anzustrengen, war ihm widerwärtig. Es
überkam ihn eine gedrückte Stimmung und der lebhafte Wunsch, aus diesem Menschenschwarm hinauszukommen.
Da ihn niemand beachtete und auch niemand ihn hier nötig zu haben schien, so begab er sich unauffällig nach dem
kleinen Saal, wo der Schanktisch aufgestellt war, und empfand, als er die Kellner wieder erblickte, eine große
Erleichterung. Der alte Kellner fragte Ljewin, ob er etwas essen wolle, und Ljewin griff diesen Gedanken gern auf.
Nachdem er ein Kotelett mit Bohnen verzehrt und sich ein bißchen mit dem Kellner über dessen frühere Herrschaft
unterhalten hatte, begab er sich auf die Galerie; in den großen Saal wollte er nicht wieder hineingehen, wo er sich
so unbehaglich fühlte.
Die Galerie war voll von geputzten Damen, die sich über die Brüstung beugten und sich bemühten, nur ja kein Wort
von dem, was unten gesprochen wurde, zu verlieren. Neben den Damen saßen und standen vornehme Rechtsanwälte,
bebrillte Gymnasiallehrer und Offiziere. Überall wurde von den Wahlen gesprochen, und wie sich der Adelsmarschall
abgequält habe, und wie hübsch die Verhandlungen gewesen seien; aus einer der Gruppen hörte Ljewin ein Lob seines
Bruders. Eine der Damen sagte zu einem Anwalt:
»Wie freue ich mich, daß ich Kosnüschew gehört habe. Dafür kann man schon ein bißchen Hunger aushalten.
Wundervoll! Wie klar und deutlich alles bei ihm herauskommt! Bei Ihnen auf dem Gericht ist niemand imstande, so zu
reden. Höchstens noch Maidel, und auch der ist bei weitem kein so glänzender Redner.«
Ljewin fand einen freien Platz an der Brüstung und beugte sich darüber, um zu sehen und zu hören.
Alle Edelleute saßen innerhalb der für die einzelnen Kreise eingerichteten kleinen Verschläge. Mitten im Saale
stand ein Herr in Uniform und verkündete mit hoher, lauter Stimme:
»Es wird ballotiert über die Kandidatur des Stabsrittmeisters Jewgeni Iwanowitsch Apuchtin für das Amt des
Gouvernements-Adelsmarschalls!« Totenstille folgte, und eine schwache Greisenstimme wurde vernehmbar:
»Ich bin zurückgetreten.«
»Es wird ballotiert über die Kandidatur des Hofrats Peter Petrowitsch Bohl«, rief wieder die erste Stimme.
»Ich bin zurückgetreten«, erscholl eine jugendliche, scharfe
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