Anna Karenina
Stimme.
Es folgte wieder ein solcher Aufruf, und wieder die Antwort: »Ich bin zurückgetreten.« So ging es ungefähr eine
Stunde lang. Ljewin, mit dem Ellbogen auf die Brüstung gestützt, sah und hörte. Anfangs war er verwundert und
suchte zu begreifen, was das zu bedeuten habe; aber als er dann zu der Überzeugung gelangt war, daß er es doch
nicht begreifen könne, wurde ihm die Sache langweilig. Darauf aber wurde ihm von dem Anblick dieser gewaltigen
Erregung und Erbitterung auf allen Gesichtern recht traurig zumute: er beschloß abzureisen und ging hinunter. Als
er den zur Galerie gehörigen Flur durchschritt, traf er auf einen Gymnasiasten, der mit sehr niedergeschlagener
Miene und tränenfeuchten Augen auf und ab ging. Auf der Treppe begegneten ihm zwei Personen: eine Dame, die auf
ihren Hackenstiefelchen eilig hinauflief, und ein windig aussehender Staatsanwaltschaftsgehilfe.
»Ich sage Ihnen, Sie kommen noch zur rechten Zeit«, sagte der Staatsanwaltschaftsgehilfe in dem Augenblick, da
Ljewin zur Seite trat, um die Dame vorüber zu lassen.
Ljewin war schon bei der nach dem Ausgang führenden Treppe und holte gerade die Kleidernummer für seinen Pelz
aus der Westentasche, als der Sekretär seiner noch habhaft wurde. »Bitte kommen Sie, Konstantin Dmitrijewitsch, es
wird ballotiert.«
Es wurde über die Kandidatur Newjedowskis abgestimmt, der vorher so entschieden in Abrede gestellt hatte, daß er
kandidieren werde.
Ljewin begab sich zu der Tür, die in den Saal führte: sie war verschlossen. Der Sekretär klopfte an; die Tür
öffnete sich, und an Ljewin vorüber schlüpften zwei Gutsbesitzer mit dunkelroten Gesichtern hinaus.
»Ich kann das nicht mehr aushalten«, sagte der eine von beiden.
Hinter ihnen wurde an der Tür das Gesicht des Gouvernements-Adelsmarschalls sichtbar. Dieses Gesicht war von
Erschöpfung und Angst schrecklich entstellt.
»Ich hatte dir doch verboten, jemand hinaus zu lassen!« schrie er dem Türhüter zu.
»Ich wollte nur jemand hereinlassen, Euer Exzellenz!«
»Mein Gott, mein Gott!« stöhnte der Gouvernements-Adelsmarschall und schlich, schwer seufzend, in seinen weißen
Hosen, mit gesenktem Kopfe, mitten durch den Saal zu dem großen Tische hin.
Eine Anzahl von Stimmen, die vorher Snetkow erhalten hatte, war nun dem klugen Anschlage gemäß auf Newjedowski
übertragen worden, und dieser war Gouvernements-Adelsmarschall geworden. Viele waren damit zufrieden, viele darüber
froh und glücklich, viele geradezu entzückt, viele aber unzufrieden und unglücklich. Der nicht wiedergewählte
Gouvernements-Adelsmarschall befand sich in einer Verzweiflung, die er nicht zu verbergen vermochte. Als
Newjedowski aus dem Saale ging, umringte ihn ein dichter Schwarm und gab ihm mit derselben Begeisterung das Geleit
wie am ersten Tage dem Gouverneur, der die Wahlen eröffnet hatte, und wie ehemals dem bisherigen
Gouvernements-Adelsmarschall Snetkow, als dieser gewählt worden war.
Fußnoten
1 (frz.) dick befreundet.
31
Der neu gewählte Gouvernements-Adelsmarschall und viele Mitglieder der siegreichen Partei der Jungen speisten an
diesem Tage bei Wronski.
Wronski war zu den Wahlen gekommen, weil er sich auf dem Lande langweilte und sein Recht auf Freiheit Anna
gegenüber wahren mußte, aber auch um sich durch seine Unterstützung bei den Wahlen Swijaschski erkenntlich zu
zeigen für all dessen Bemühungen zu seinen, Wronskis, Gunsten bei den Kreistagswahlen, und ganz besonders, um alle
Pflichten der selbsterwählten Stellung eines Edelmannes und Grundbesitzers genau zu erfüllen. Aber er hätte nie
erwartet, daß diese Wahlangelegenheit ihn so beschäftigen und fesseln, auch nicht, daß er mit dieser Angelegenheit
so gut zurechtkommen werde. Er war in dem Kreise der Edelleute ein vollständiger Neuling gewesen; aber er hatte
augenscheinlich Erfolg gehabt und irrte sich nicht, wenn er glaubte, daß er unter den Edelleuten bereits einen
beträchtlichen Einfluß erlangt hatte. Zu diesem Ergebnis wirkten verschiedene Umstände zusammen: sein Reichtum und
sein Ansehen, das schöne Haus in der Stadt, das ihm von einem alten Bekannten namens Schirkow zur Benutzung
überlassen war, der Geldgeschäfte betrieb und in Kaschin mit großem Erfolg eine Bank gegründet hatte; ferner der
vorzügliche Koch, den Wronski von seinem Gute mitgebracht hatte; dann die Freundschaft mit dem Gouverneur, der sein
Jugendkamerad vom Pagenkorps her war, und zwar sogar ein
Weitere Kostenlose Bücher