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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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sie den Brief abgeschickt hatte, wieder gebessert hatte. Dann aber dachte sie daran, daß er nun da sei,
    der ganze Mensch, mit seinen Händen, mit seinen Augen. Sie hörte seine Stimme. Und alles vergessend, lief sie ihm
    freudig entgegen.
    »Nun, was macht Anny?« fragte er zaghaft von unten, als er sah, daß Anna zu ihm heruntergelaufen kam.
    Er saß auf einem Stuhl, und ein Diener zog ihm die gefütterten Stiefel aus.
    »Es geht zur Zufriedenheit; sie befindet sich besser.«
    »Und du?« fragte er, indem er sich den Schnee abschüttelte.
    Sie ergriff mit beiden Händen seinen Arm und zog ihn um ihre Hüfte herum, ohne die Augen von ihm abzuwenden.
    »Nun, das freut mich sehr«, sagte er und ließ einen kalten Blick über sie, über ihre Frisur und über ihr Kleid
    gleiten, das sie, wie er wußte, seinetwillen angelegt hatte.
    Alles dies gefiel ihm; aber wie oft hatte es ihm schon gefallen! Und jener strenge, steinerne Ausdruck, den sie
    so sehr fürchtete, dauerte auf seinem Gesichte an.
    »Nun, das freut mich sehr. Also du bist gesund?« sagte er, und nachdem er sich mit dem Taschentuche den feuchten
    Bart abgetrocknet hatte, küßte er ihr die Hand.
    ›Ganz gleich‹, dachte sie. ›Die Hauptsache ist, daß er hier ist, und wenn er hier ist, so soll und wird er mich
    lieben.‹
    Der Abend verging heiter und fröhlich in Gesellschaft der Prinzessin Warwara, die bei Wronski über Anna Klage
    führte, weil sie, während er weg war, Morphium genommen habe.
    »Was sollte ich machen? Ich konnte nicht schlafen. Meine Gedanken hinderten mich daran. Wenn er hier ist, nehme
    ich nie welches. Fast nie.«
    Er erzählte von den Wahlen, und Anna verstand es, ihn durch Fragen zu dem Gegenstand hinzuleiten, von dem er mit
    Vergnügen sprach: von dem Erfolg, den er gehabt hatte. Sie ihrerseits erzählte ihm alles, was ihn von den
    häuslichen Erlebnissen interessieren konnte. Und alle ihre Nachrichten waren erfreulich.
    Aber als sie spät am Abend allein waren und Anna sah, daß sie ihn wieder vollständig unter ihrer Herrschaft
    hatte, wollte sie die unangenehme Erinnerung an den Blick verwischen, mit dem er sie wegen ihres Briefes angesehen
    hatte. Sie sagte:
    »Gestehe nur, du hast dich geärgert, als du meinen Brief bekamst, und hast mir nicht geglaubt?«
    Sobald sie das ausgesprochen hatte, merkte sie auch schon, daß, mochte er im Augenblick auch noch so verliebt in
    sie sein, er ihr dies nicht verziehen habe.
    »Der Brief war allerdings recht sonderbar«, erwiderte er. »Zuerst schriebst du, Anny sei krank, und dann, daß du
    selbst hinkommen wolltest.«
    »Es war alles die Wahrheit.«
    »Daran zweifle ich auch nicht.«
    »Doch, du zweifelst daran. Du bist mit mir unzufrieden; das sehe ich dir an.«
    »Ich zweifle nicht einen Augenblick. Unzufrieden bin ich wohl, das ist richtig, aber nur deswegen, weil du, wie
    es scheint, nicht anerkennen willst, daß es Pflichten gibt ...«
    »Die Pflicht, in ein Konzert zu gehen ...«
    »Wir wollen nicht weiter davon reden«, sagte er.
    »Warum sollten wir denn nicht davon reden?« versetzte sie.
    »Ich will nur sagen, daß doch auch Angelegenheiten vorkommen können, denen man sich durchaus nicht entziehen
    kann. So werde ich jetzt wegen des Hauses nach Moskau fahren müssen ... Ach, Anna, warum bist du nur so reizbar?
    Weißt du denn nicht, daß ich ohne dich nicht leben kann?«
    »Wenn du gleich wieder weg willst«, sagte Anna in plötzlich verändertem Tone, »so sehe ich daraus, daß dir das
    Leben mit mir lästig ist ... Du kommst auf einen Tag und fährst wieder fort; so machen das ...«
    »Anna, es ist grausam von dir, so zu reden. Ich bin bereit, mein ganzes Leben hinzugeben ...«
    Aber sie hörte gar nicht auf ihn.
    »Wenn du nach Moskau fährst, fahre ich auch hin. Ich bleibe hier nicht allein. Entweder müssen wir uns ganz
    trennen oder dauernd zusammen leben.«
    »Du weißt ja doch, daß dies mein einziger Wunsch ist. Aber um das zu ermöglichen ...«
    »Ist die Scheidung nötig? Ich will an ihn schreiben. Ich sehe, daß ich so nicht weiterleben kann ... Aber nach
    Moskau fahre ich mit dir doch.«
    »Du sprichst das wie eine Drohung. Und doch wünsche ich nichts so sehnlich, als mich nie mehr von dir zu
    trennen«, erwiderte Wronski lächelnd.
    Aber nicht mehr nur ein kalter Blick lag in seinen Augen, sondern es blitzte darin der böse Blick eines aufs
    höchste gereizten und erbitterten Menschen auf, während er diese zärtlichen Worte sprach.
    Sie sah diesen Blick und

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