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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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verstand seine Bedeutung richtig.
    ›Wenn es so steht, dann ist es ein Unglück!‹ sagte dieser Blick von ihm. Und obgleich dieser Eindruck nur einen
    Augenblick gedauert hatte, vergaß sie ihn in der Folgezeit nie wieder.
    Anna schrieb an ihren Mann und bat ihn um die Scheidung. Gegen Ende November siedelten Wronski und Anna, nachdem
    die Prinzessin Warwara, die nach Petersburg reisen mußte, sich von ihnen getrennt hatte, nach Moskau über. Da sie
    jeden Tag Alexei Alexandrowitschs Antwort und im Anschluß an diese die Scheidung erwarteten, so wohnten sie jetzt
    wie Eheleute zusammen.

1
    Ljewins wohnten schon mehr als zwei Monate in Moskau. Schon längst war jener Zeitpunkt vorüber, wo nach den
    zuverlässigsten Berechnungen von Leuten, die mit diesen Dingen Bescheid wußten, Kittys Entbindung hätte stattfinden
    müssen; aber die Schwangerschaft dauerte immer noch fort, und aus keinem Anzeichen war zu entnehmen, daß das
    wichtige Ereignis jetzt näher bevorstehe als vor zwei Monaten. Der Arzt und die Hebamme und Dolly und die Mutter
    und ganz besonders Ljewin, der ohne Angst gar nicht an das, was herannahte, denken konnte, alle begannen sie
    ungeduldig und unruhig zu werden; nur Kitty fühlte sich völlig ruhig und glücklich.
    Sie merkte jetzt deutlich, wie in ihrem Herzen ein neues Gefühl der Liebe zu dem künftigen, für sie zum Teil
    schon gegenwärtigen Kinde heranwuchs, und überließ sich mit Wonne diesem Gefühl. Das Kind war jetzt nicht mehr
    lediglich ein Teil von ihr, sondern führte mitunter schon sein eigenes, von ihr unabhängiges Leben. Oft verursachte
    ihr das körperlichen Schmerz; aber zugleich kam sie die Lust an, laut aufzulachen in einem seltsamen, neuen
    Freudengefühl.
    Alle, die sie liebte, waren um sie, und alle waren so gut und lieb zu ihr und zeigten sich so eifrig auf ihr
    Wohl bedacht, und überall trat ihr so ausschließlich nur Angenehmes und Freundliches entgegen, daß, wenn sie nicht
    gewußt und gefühlt hätte, daß dieser Zustand bald ein Ende nehmen müsse, sie sich gar kein besseres, angenehmeres
    Leben hätte wünschen können. Das einzige, was ihr den vollen Genuß dieses Daseins beeinträchtigte, war der Umstand,
    daß ihr Mann nicht so war, wie sie ihn gern hatte und wie er auf dem Lande zu sein pflegte.
    Sie liebte sein ruhiges, heiteres, gastfreundliches Wesen auf dem Lande. In der Stadt dagegen schien er immer
    unruhig und auf der Hut zu sein, als fürchte er, es könne jemand ihm und namentlich ihr etwas zuleide tun. Dort auf
    dem Lande, wo er offenbar das Bewußtsein hatte, daß er an seinem Platze sei, hatte er nie gehastet und war nie
    unbeschäftigt gewesen. Hier in der Stadt hatte er es fortwährend eilig, als wolle er dies oder das nicht versäumen,
    und dabei hatte er eigentlich gar nichts zu tun. Und er tat ihr leid. Auf andere Leute, das wußte sie, machte er
    keinen bemitleidenswerten Eindruck; im Gegenteil, wenn Kitty ihn in Gesellschaft beobachtete, wie man wohl manchmal
    einen geliebten Menschen beobachtet und sich bemüht, ihn wie einen Fremden anzusehen, um sich vorstellen zu können,
    welchen Eindruck er auf andere mache, so bemerkte sie sogar mit einer Art von eifersüchtiger Bangigkeit, daß er mit
    seinem wohlgesitteten Anstande, mit seiner etwas altmodischen, schüchternen Höflichkeit den Damen gegenüber, mit
    seiner kräftigen Gestalt und mit seinem, wie es ihr schien, besonders ausdrucksvollen Gesicht keineswegs eine
    bemitleidenswerte, sondern vielmehr eine sehr anziehende Erscheinung war. Aber vorwiegend betrachtete sie ihn nicht
    von außen, sondern sozusagen von innen heraus, und dabei sah sie, daß er hier nicht der echte Ljewin war; anders
    konnte sie sich seinen Zustand nicht erklären. Zuzeiten machte sie es ihm im stillen zum Vorwurf, daß er es nicht
    verstehe, in der Stadt zu leben; zu anderer Zeit aber wieder sagte sie sich, daß es wirklich für ihn eine schwere
    Aufgabe sei, hier sein Leben so zu gestalten, daß es ihm selbst Befriedigung gewähre.
    Und in der Tat, was sollte er hier tun? Das Kartenspiel machte ihm kein Vergnügen. In den Klub ging er nicht.
    Mit Lebemännern von Oblonskis Schlage zu verkehren, jetzt wußte sie schon, was das bedeutete: das bedeutete, an
    argen Trinkgelagen teilzunehmen und nachher böse, böse Orte zu besuchen. Sie konnte ohne Entsetzen gar nicht daran
    denken, wohin sich die Männer bei solchen Gelegenheiten zu begeben pflegten. Oder sollte er am Gesellschaftsleben
    teilnehmen? Aber sie

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