Anna Karenina
wußte, dazu gehörte, daß einem die Annäherung an junge Damen Vergnügen machte; und daß das bei
ihrem Manne der Fall wäre, konnte sie doch auch nicht wünschen. Oder sollte er mit ihr und ihrer Mutter und ihren
Schwestern zu Hause sitzen? Aber so angenehm und unterhaltend ihr selbst diese sich immer gleichbleibenden
Gespräche waren (Linchen-Trinchen-Gespräche pflegte der alte Fürst die Unterhaltungen der Schwestern zu nennen), so
wußte sie doch, daß ihm das langweilig sein mußte. Was blieb ihm also übrig zu tun? Sollte er an seinem Buche
schreiben? Er hatte dazu auch wirklich einen Versuch gemacht und war in der ersten Zeit einige Male nach der
Bibliothek gegangen, um sich für sein Buch Auszüge zu machen und sich über einzelne Punkte zu belehren; aber, wie
er sich ihr gegenüber ausgedrückt hatte, je länger dieses müßige Leben dauerte, um so weniger Zeit hatte er übrig.
Und außerdem klagte er ihr, er habe hier schon zuviel von seinem Buche gesprochen, und die Folge davon sei, daß ihm
alle seine Gedanken über diesen Gegenstand in Verwirrung geraten seien und ihre Anziehungskraft für ihn verloren
hätten.
Einen Vorteil brachte jedoch das Stadtleben insofern mit sich, als Streitigkeiten hier in der Stadt zwischen
ihnen beiden niemals vorkamen. Ob dies nun daher rührte, daß die gesamten Lebensverhältnisse in der Stadt andere
waren, oder daher, daß sie beide in dieser Hinsicht vorsichtiger und verständiger geworden waren, genug,
Zwistigkeiten aus Eifersucht, vor denen ihnen bei der Übersiedlung nach der Stadt so bange gewesen war, kamen hier
nicht vor.
In dieser Hinsicht trug sich sogar ein für beide sehr wichtiges Ereignis zu, nämlich eine Begegnung Kittys mit
Wronski.
Die alte Fürstin Marja Borisowna, Kittys Taufpatin, die immer eine große Zuneigung zu ihr gehabt hatte, wünschte
dringend, sie wiederzusehen. Obwohl Kitty wegen ihres Zustandes sonst keine Besuche machte, fuhr sie doch mit ihrem
Vater zu der verehrten alten Dame und traf bei ihr Wronski.
Kitty hatte sich bei dieser Begegnung nur das eine vorzuwerfen, daß für einen Augenblick, als sie in dem
Zivilanzuge die ihr einst so wohlvertrauten Züge erkannte, ihr der Atem stockte, alles Blut zum Herzen strömte und,
wie sie fühlte, eine heiße Röte ihr ins Gesicht stieg. Aber das dauerte nur einige Sekunden. Ihr Vater, der
absichtlich in lautem Tone mit Wronski sprach, hatte dieses Gespräch noch nicht beendet, als sie bereits völlig
fähig war, Wronski anzusehen und nötigenfalls mit ihm zu reden, geradeso wie sie mit der Fürstin Marja Borisowna
redete, und vor allen Dingen so, daß alles, bis auf die kleinste Einzelheit im Klang ihrer Stimme und in ihrem
Lächeln, die Billigung ihres Mannes gefunden hätte, dessen unsichtbare Gegenwart sie in diesem Augenblick zu
empfinden glaubte.
Sie wechselte einige Worte mit ihm und lächelte sogar ruhig zu einer scherzhaften Bemerkung von ihm über die
Wahlversammlung, die er »unser Parlament« nannte. (Daß sie lächelte, war erforderlich, um zu zeigen, daß sie den
Scherz verstanden habe.) Aber dann wandte sie sich auch sofort zu der Fürstin Marja Borisowna und blickte kein
einziges Mal wieder nach ihm, bis er aufstand, um sich zu empfehlen; nun sah sie ihn an, aber augenscheinlich nur,
weil es unhöflich ist, jemand, der einem eine Verbeugung macht, nicht anzusehen.
Sie war ihrem Vater dafür dankbar, daß er zu ihr über ihr Zusammentreffen mit Wronski keinerlei Bemerkung
machte; aber an seiner besonderen Zärtlichkeit, während sie nach dem Besuch ihre gewöhnliche Spazierfahrt machte,
merkte sie, daß er mit ihr zufrieden war. Auch sie selbst war mit sich zufrieden. Sie hatte gar nicht erwartet, daß
sie die Kraft besitzen würde, alle Erinnerungen an ihre früheren Gefühle für Wronski irgendwo in der Tiefe ihrer
Seele gewaltsam niederzuhalten und ihm gegenüber völlig gleichmütig und ruhig nicht nur zu scheinen, sondern auch
zu sein.
Ljewin errötete weit heftiger als Kitty selbst, als sie ihm erzählte, daß sie mit Wronski bei der Fürstin Marja
Borisowna zusammengetroffen sei. Es war ihr sehr schwer geworden, ihm dies mitzuteilen; aber noch schwerer wurde es
ihr, weiterzusprechen und über die Einzelheiten der Begegnung zu berichten, da er keine Fragen darüber an sie
richtete, sondern sie nur mit finsterem Gesicht anblickte.
»Es tut mir sehr leid, daß du nicht dabei warst«, sagte sie. »Ich meine nicht, im Zimmer; ich
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