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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Folgerichtigkeit in Ljewins Denken sei eine Folge ungenügender geistiger Zucht. Aber trotzdem hatte Katawasows
    Klarheit für Ljewin etwas Anziehendes und ebenso für Katawasow die Überfülle von Ljewins ungeordneten Gedanken; es
    machte beiden Vergnügen, miteinander zusammenzukommen und sich zu unterhalten.
    Ljewin hatte seinem Freunde einige Stellen aus seinem Werke vorgelesen, und sie hatten ihm gefallen. Als
    Katawasow gestern mit Ljewin in einer öffentlichen Vorlesung zusammengetroffen war, hatte er ihm mitgeteilt, daß
    der berühmte Metrow, an dessen Abhandlung Ljewin so großes Gefallen gefunden hatte, sich gegenwärtig in Moskau
    aufhalte und große Anteilnahme dafür bekundet habe, was er, Katawasow, ihm von Ljewins Arbeit erzählt habe. Metrow
    werde morgen um elf Uhr bei ihm sein und sich sehr freuen, Ljewins Bekanntschaft zu machen.
    »Sie haben sich aber ganz entschieden gebessert, liebster Freund, wie ich mit Vergnügen feststelle«, sagte
    Katawasow, als er Ljewin in seinem kleinen Wohnzimmer begrüßte. »Ich höre die Klingel und denke: es ist doch
    unmöglich, daß der pünktlich kommt ... Nun also, was sagen Sie zu den Montenegrinern? Ein echtes Kriegervolk!«
    »Was hat sich denn neuerdings ereignet?« fragte Ljewin.
    Katawasow teilte ihm in kurzen Worten die letzte Nachricht vom Kriege mit; dann ging er mit ihm in sein
    Arbeitszimmer und machte ihn dort mit einem kleinen, stämmigen Herrn von sehr angenehmem Äußern bekannt. Dies war
    Metrow. Das Gespräch drehte sich kurze Zeit um Politik und um die Auffassung, die man in den höchsten Kreisen
    Petersburgs von den letzten Ereignissen habe. Metrow teilte eine ihm aus zuverlässiger Quelle bekannt gewordene
    Äußerung mit, die der Kaiser und ein Minister bei diesem Anlasse getan hätten. Katawasow dagegen hatte gleichfalls
    als zuverlässig gehört, der Kaiser habe etwas ganz anderes gesagt. Ljewin bemühte sich, eine Lage zu ersinnen, in
    der sowohl die eine wie die andere Äußerung getan sein könnte; dann brach man das Gespräch über diesen Gegenstand
    ab.
    »Ja, mein Freund hier hat ein Buch über die natürlichen Lebensbedingungen des Arbeiters in bezug auf den Grund
    und Boden beinah vollendet«, sagte Katawasow. »Ich bin nicht Fachmann; aber als Naturforscher habe ich mich
    gefreut, daß er den Menschen nicht als etwas außerhalb der zoologischen Gesetze Stehendes auffaßt, sondern seine
    Abhängigkeit von seiner gesamten Umgebung einsieht und in dieser Abhängigkeit die Gesetze der Entwicklung
    sucht.«
    »Das ist sehr reizvoll«, erwiderte Metrow.
    »Ich hatte eigentlich angefangen, ein rein landwirtschaftliches Buch zu schreiben«, bemerkte Ljewin errötend;
    »indem ich mich aber darin mit dem Hauptinstrument der Landwirtschaft, dem Arbeiter, beschäftigte, bin ich
    unwillkürlich zu ganz unerwarteten Ergebnissen gelangt.«
    Und nun begann Ljewin vorsichtig, wie wenn er das Gelände erkunden wollte, seine Ansicht darzulegen. Er wußte,
    daß Metrow eine Abhandlung gegen die herrschende volkswirtschaftliche Auffassung geschrieben hatte; aber bis zu
    welchem Grade er bei ihm auf Zustimmung zu seinen eigenen neuen Ansichten hoffen durfte, das wußte er nicht und
    konnte er aus dem klugen, ruhigen Gesicht des Gelehrten nicht erraten.
    »Aber worin sehen Sie denn die besonderen Eigentümlichkeiten des russischen Arbeiters?« fragte Metrow. »In
    seinen, um mich so auszudrücken, zoologischen Eigenschaften oder in den Lebensverhältnissen, in denen er sich
    befindet?«
    Ljewin merkte, daß schon in dieser Frage ein Gedanke zum Ausdruck kam, mit dem er nicht einverstanden sein
    konnte; aber er fuhr fort, seine Ansicht zu entwickeln, die darin bestand, daß der russische Arbeiter vom Grund und
    Boden eine Auffassung habe, die von der Auffassung der Arbeiter bei anderen Völkern durchaus verschieden sei. Und
    um diesen Satz zu beweisen, beeilte er sich, hinzuzufügen, seiner Meinung nach rühre diese Auffassung des
    russischen Volkes daher, daß es sich seines Berufes, die gewaltigen, noch unbewohnten Landgebiete im Osten zu
    besiedeln, bewußt sei.
    »Bei Schlüssen über den gemeinsamen Beruf eines Volkes gerät man leicht in Irrtümer«, bemerkte Metrow, indem er
    Ljewin unterbrach. »Der Zustand des Arbeiters wird immer von seinem Verhältnis zum Grund und Boden und zum Kapital
    abhängen.«
    Und ohne daß er Ljewin hätte seinen Gedanken bis zu Ende darlegen lassen, begann nun Metrow ihm die Besonderheit
    seiner eigenen

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