Anna Karenina
darum, daß Sie zu dieser interessanten Gelehrtenwelt Zutritt haben«,
sagte er und ging, da er nun in Eifer kam, wie gewöhnlich sogleich zu der ihm geläufigeren französischen Sprache
über. »Allerdings würde ich auch gar keine Zeit dazu haben. Mein Amt und die Beschäftigung mit den Kindern nehmen
mir die Möglichkeit dazu. Und ferner schäme ich mich nicht einzugestehen, daß meine Bildung gar zu mangelhaft
ist.«
»Das möchte ich denn doch nicht glauben«, erwiderte Ljewin lächelnd; wie immer empfand er eine gewisse Rührung
über Lwows geringe Selbsteinschätzung, die keineswegs erheuchelt war in der Absicht, bescheiden zu scheinen oder
gar zu sein, sondern durchaus seiner wirklichen Gesinnung entsprach.
»Doch, doch! Ich fühle jetzt recht, wie schwach es mit meinen Kenntnissen bestellt ist. Ich muß sogar für die
Erziehung meiner Kinder vieles in meinem Gedächtnis wieder auffrischen oder geradezu neu lernen. Denn daß die
Kinder Lehrer haben, damit ist's nicht genug; es muß auch jemand da sein, der die Aufsicht führt, gerade wie Sie in
Ihrer Landwirtschaft zu den Arbeiten noch einen Aufseher nötig haben. Sehen Sie, was ich da eben lese«, er zeigte
auf die Buslajewsche Grammatik, die auf dem Lesepult lag, »das hat mein kleiner Michail aufbekommen, und es ist so
furchtbar schwer ... Hier, erklären Sie mir dies doch, bitte. Hier heißt es ...«
Ljewin wollte ihm deutlich machen, daß dabei eigentlich nichts zu verstehen wäre; das müsse einfach auswendig
gelernt werden. Aber Lwow wollte ihm darin nicht zustimmen. »Ja, sehen Sie wohl, Sie machen sich darüber lustig«,
sagte er.
»Im Gegenteil«, erwiderte Ljewin, »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie eifrig ich immer, wenn ich Sie so
beobachte, das zu erlernen suche, was ich für die Zukunft verstehen muß, nämlich die Kunst der
Kindererziehung.«
»Nun, zu lernen ist dabei eigentlich nichts«, versetzte Lwow.
»Ich weiß nur«, sagte Ljewin, »daß ich noch nie besser erzogene Kinder als die Ihrigen gesehen habe und mir gar
keine besseren Kinder, als es die Ihrigen sind, wünschen könnte.«
Lwow wollte sich offenbar beherrschen, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich freute; aber trotzdem
strahlte er über das ganze Gesicht.
»Wenn sie nur besser werden als ich. Das ist alles, was ich wünsche«, erwiderte er. »Sie wissen noch nicht, was
für Not man mit Knaben hat, die wie die meinigen bei dem steten Leben im Ausland nicht ihre richtige Ordnung gehabt
haben.«
»Das werden Sie alles mit ihnen nachholen. Die Knaben sind ja so gut befähigt. Die Hauptsache bleibt doch immer
die sittliche Erziehung. Und das ist es, was ich zu lernen suche, wenn ich Ihre Kinder ansehe.«
»Sie sagen: die sittliche Erziehung. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schwer das ist! Kaum hat man eine
üble Neigung bezwungen, so entwickeln sich andre, und der Kampf beginnt von neuem. Wenn wir nicht an der Religion
eine Stütze hätten (Sie besinnen sich wohl, wir haben einmal darüber gesprochen), so wäre kein Vater aus eigener
Kraft, ohne diese Hilfe, imstande, seine Kinder zu erziehen.«
Dieses für Ljewin stets interessante Gespräch wurde durch Natalja Alexandrowna unterbrochen, die, bereits zur
Ausfahrt angekleidet, ins Zimmer trat. Es ließ sich nicht leugnen, daß sie eine wirkliche Schönheit war.
»Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie hier waren«, sagte sie; augenscheinlich war sie keineswegs betrübt darüber,
daß sie dieses ihr längst bekannte und langweilige Gespräch unterbrochen hatte, sondern im Gegenteil erfreut. »Nun,
was macht Kitty? Ich bin heute bei euch zum Mittagessen. Also nun möchte ich dir einmal sagen, Arseni«, wandte sie
sich zu ihrem Manne, »du nimmst den Wagen ...«
Und nun begann zwischen Mann und Frau eine Beratung darüber, wie sie den Tag verleben wollten. Da der Mann
dienstlich zum Empfang irgend jemandes nach dem Bahnhof fahren mußte und die Frau zum Konzert und zu einer
öffentlichen Sitzung des Komitees für den Südosten wollte, so war vieles zu erwägen und zu bedenken. Ljewin, als
Verwandter, mußte sich an diesen Überlegungen beteiligen. Es wurde beschlossen, Ljewin sollte mit Natalja ins
Konzert und in die öffentliche Sitzung fahren; von dort sollte der Wagen zu Arsenis Amt geschickt werden, Arseni
sollte dann seine Frau abholen und zu Kitty hinbringen; oder, wenn er mit seinen Amtsgeschäften noch nicht fertig
wäre, so sollte er den Wagen wieder
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