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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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unnatürlich das ist! Es liegt eine Art von
    Unwahrhaftigkeit darin! Und auch die Kinder haben ein Gefühl dafür. Man bringt ihnen das Französische bei und
    entwöhnt sie dabei von der Aufrichtigkeit‹, dachte er bei sich selbst, ohne zu wissen, daß Darja Alexandrowna all
    das schon zwanzigmal überlegt und dennoch, ob auch zum Schaden der Aufrichtigkeit, es für notwendig erachtet hatte,
    ihre Kinder in dieser Weise zu bilden.
    »Aber warum wollen Sie denn schon fort? Bleiben Sie doch noch ein Weilchen!«
    Ljewin blieb noch zum Tee; aber seine Heiterkeit war verschwunden, und er fühlte sich unbehaglich.
    Nach dem Tee ging er ins Vorzimmer, um Befehl zum Anspannen zu geben, und als er zurückkehrte, fand er Darja
    Alexandrowna in höchster Aufregung, mit verstörtem Gesichte und Tränen in den Augen. Während Ljewin hinausgegangen
    war, hatte sich ein Ereignis zugetragen, durch das plötzlich ihre ganze heutige Glückseligkeit und ihr Stolz über
    die Kinder zunichte geworden war: Grigori und Tanja hatten sich wegen eines Balles geprügelt! Darja Alexandrowna
    hatte gehört, daß in der Kinderstube ein furchtbares Geschrei war; sie war hingelaufen und hatte die beiden Kinder
    in einem schrecklichen Zustande gefunden: Tanja hielt Grigori an den Haaren gepackt, und er, dessen Gesicht von Wut
    ganz entstellt war, schlug auf sie mit den Fäusten los, wohin es gerade traf. Darja Alexandrowna hatte bei diesem
    Anblick eine Empfindung, als ob in ihrem Herzen etwas zerrisse; es war ihr, als senke sich ein tiefes Dunkel auf
    ihr Leben herab: sie erkannte auf einmal, daß diese ihre Kinder, auf die sie so stolz gewesen war, nicht nur Kinder
    der allergewöhnlichsten Art, sondern sogar unartige, übel erzogene Kinder mit rohen, gewalttätigen Trieben, mit
    einem Wort: schlechte Kinder waren.
    Sie konnte von nichts anderem sprechen und an nichts anderes denken und mußte ihrem Gaste ihr schweres Leid
    erzählen.
    Ljewin sah, wie unglücklich sie über den Vorfall war, und bemühte sich, sie zu trösten, indem er sagte, das sei
    noch gar kein Beweis von schlechtem Charakter; prügeln täten sich alle Kinder; aber während er so redete, dachte er
    doch in seinem Herzen: ›Nein, ich werde nicht Komödie spielen und mit meinen Kindern Französisch sprechen. Aber
    meine Kinder werden auch von anderer Art sein; man muß seine Kinder nur nicht verderben und verbilden; dann werden
    es prächtige Kinder sein. Ja, meine Kinder werden von anderer Art sein.‹
    Er empfahl sich und fuhr ab, und sie suchte ihn nicht zurückzuhalten.

11
    Mitte Juli stellte sich bei Ljewin der Dorfschulze von dem Dorfe seiner Schwester ein, das ungefähr zwanzig
    Werst von Pokrowskoje entfernt lag, und brachte einen Rechenschaftsbericht über den Gang der
    Wirtschaftsangelegenheiten und über die Heuernte. Die Haupteinnahme lieferten bei dem Gute seiner Schwester die
    Überschwemmungswiesen am Flusse. In früheren Jahren waren diese Wiesen für zwanzig Rubel die Deßjatine an die
    Bauern auf Teilung verpachtet worden. Als Ljewin die Verwaltung des Gutes übernahm, fand er bei einer Besichtigung
    der Wiesen, daß sie mehr wert seien, und setzte den Preis für die Deßjatine auf fünfundzwanzig Rubel fest. Auf
    diesen Preis gingen die Bauern nicht ein und verscheuchten, wie Ljewin argwöhnte, auch andere Pachtlustige. Darauf
    fuhr Ljewin selbst hin und richtete es so ein, daß die Wiesen teils für Tagelohn, teils für einen Teil des Ertrags
    gemäht wurden. Die Bauern des Dorfes selbst bereiteten dieser Neuerung Hindernisse, soviel sie nur irgend konnten;
    aber die Sache gelang trotzdem, und gleich im ersten Jahre wurde aus den Wiesen fast die doppelte Einnahme erzielt.
    Im dritten Jahre, das heißt im letztvergangenen, hatte dieser Widerstand der Bauern noch fortgedauert, und die
    Heuernte war in derselben Weise vor sich gegangen. Im laufenden Jahre nun hatten die Bauern das Einernten des Heus
    auf allen Wiesen für den dritten Teil des Ertrages übernommen, und jetzt kam der Dorfschulze, um zu melden, daß die
    Heuernte beendet sei und daß er, aus Furcht vor Regen, unter Zuziehung des Gutsschreibers in dessen Gegenwart die
    Teilung vorgenommen und bereits elf herrschaftliche Schober aufgestellt habe. Aber aus seinen unbestimmten
    Antworten auf die Frage, wieviel Heu auf der Hauptwiese geerntet sei, aus der Eilfertigkeit des Dorfschulzen, der
    die Teilung des Heus ohne vorherige Anfrage ausgeführt hatte, und aus dem ganzen Tone des Bauern schloß

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