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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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zog das Taschentuch hervor und fuhr sich
    damit über den schon recht kahlen Kopf.
    Darja Alexandrowna antwortete nichts und sah ihn nur erschrocken an. Jetzt, wo sie mit ihm allein war, wurde ihr
    plötzlich bange zumute: seine lachenden Augen und dabei der ernste Ausdruck seines Gesichtes ängstigten sie.
    Die verschiedenartigsten Vermutungen über das, was er wohl mit ihr zu besprechen vorhabe, gingen ihr in der
    Geschwindigkeit durch den Kopf. ›Er wird mich einladen, mit den Kindern zu längerem Besuche zu ihnen
    hierherzukommen, und ich werde es ihm abschlagen müssen; oder er wird mich bitten, für Anna in Moskau einen
    gesellschaftlichen Verkehr zu schaffen ... Oder will er von Wasenka Weslowski und seinem Verhältnis zu Anna reden?
    Oder vielleicht von Kitty, daß er sich ihr gegenüber schuldig fühlt?‹ Ihre Mutmaßungen gingen nur auf Unangenehmes;
    aber das, worüber er mit ihr sprechen wollte, erriet sie nicht.
    »Sie haben einen so großen Einfluß auf Anna, und sie liebt Sie so von Herzen«, sagte er; »helfen Sie mir!«
    Darja Alexandrowna blickte schüchtern fragend in sein energisches Gesicht, das in der schattigen Lindenallee
    bald ganz, bald teilweise in das Licht der durch das Laub dringenden Sonnenstrahlen trat, bald wieder von den
    Schatten verdunkelt wurde, und wartete, was er weiter sagen werde; aber er ging schweigend neben ihr her und ließ
    seinen Spazierstock über den Kies hinschleifen.
    »Da Sie zu uns gekommen sind, Sie als die einzige von Annas früheren Freundinnen (die Prinzessin Warwara zähle
    ich nicht mit), so verstehe ich sehr wohl, daß Sie das nicht etwa getan haben, weil Ihnen unsere Lage als eine
    normale erschiene, sondern weil Sie, bei voller Erkenntnis der ganzen Peinlichkeit dieser Lage, Anna doch noch
    liebhaben und ihr helfen wollen. Habe ich Sie richtig verstanden?« fragte er, indem er sie anblickte.
    »Ja, gewiß«, erwiderte Darja Alexandrowna und machte ihren Sonnenschirm zu. »Aber ...«
    »Glauben Sie«, unterbrach er sie und blieb unwillkürlich stehen; er vergaß völlig, daß er dadurch seine
    Begleiterin in eine wunderliche Lage brachte und sie nun gleichfalls stehenbleiben mußte, »niemand empfindet mehr
    und stärker als ich die ganze Peinlichkeit der Lage Annas. Und das ist ja auch begreiflich, wenn anders Sie mir die
    Ehre erweisen, mich für einen Mann zu halten, der ein Herz in der Brust hat. Ich bin an dieser Lage schuld, und
    daher empfinde ich sie so schwer.«
    »Ich verstehe das«, erwiderte Darja Alexandrowna, die ihn unwillkürlich bewunderte, mit welcher Offenheit und
    Festigkeit er das aussprach. »Aber ebendeshalb, weil Sie die Empfindung haben, daß Sie daran schuld sind,
    übertreiben Sie, möchte ich meinen. Daß Annas Stellung in der Gesellschaft peinlich ist, weiß ich allerdings.«
    »Die Gesellschaft ist für sie geradezu eine Hölle!« sagte er schnell mit finsterem Gesicht. »Man kann sich keine
    ärgeren Seelenqualen vorstellen als die, die sie in Petersburg während jener zwei Wochen hat durchmachen müssen.
    Davon wollen Sie überzeugt sein.«
    »Ja, aber hier, solange weder Anna noch Sie nach der Gesellschaft Verlangen tragen ...«
    »Nach der Gesellschaft!« rief er verächtlich. »Wie kann ich nach der Gesellschaft Verlangen tragen?«
    »Solange (und vielleicht bleibt das immer so) sind Sie ja doch glücklich und ruhig. Ich merke es Anna an, daß
    sie glücklich, vollkommen glücklich ist, und sie hat es mir gegenüber auch schon selbst ausgesprochen«, sagte Darja
    Alexandrowna lächelnd; aber gerade während sie das sagte, begann sie zu zweifeln, ob Anna auch wohl wirklich
    glücklich sei.
    Aber Wronski, wie es schien, zweifelte daran nicht.
    »Ja, ja«, versetzte er. »Ich weiß, daß sie nach allen ihren Leiden hier wieder aufgelebt ist; sie ist glücklich.
    Sie ist glücklich über den gegenwärtigen Zustand. Aber ich? ... ich fürchte das, was uns in der Zukunft erwartet
    ... Verzeihung, Sie möchten weitergehen?«
    »Nicht doch, es ist mir ganz gleich.«
    »Nun, dann setzen wir uns hier.«
    Darja Alexandrowna setzte sich auf eine Gartenbank in einem Winkel der Allee. Wronski blieb vor ihr stehen.
    »Ich sehe, daß sie glücklich ist«, sagte er noch einmal, und der Zweifel, ob sie auch wirklich glücklich ist,
    regte sich bei Darja Alexandrowna noch stärker. »Aber kann das so fortdauern? Ob wir gut oder schlecht gehandelt
    haben, ist eine andere Frage; aber der Würfel ist geworfen« (hier ging er vom Russischen

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