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Anne Rice - Pandora

Anne Rice - Pandora

Titel: Anne Rice - Pandora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pandora
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römisch geprägten Welt ausbreitete, lange bevor sie die Stadt Rom selbst erreichte. Unsere Priester waren Griechen und Römer, arme Männer. Und auch wir, die Gemeinde, waren Griechen und Römer.
    Etwas rührte sich auf dem Grund meines Gedächtnis-ses. Es sagte: »Erinnere dich.« Eine kleine, verzweifelte Stimme in meinem Kopf drängte mich, mich um meiner selbst willen »zu erinnern«.
    Aber das Erinnern führte nur zu verworrenen Gedanken. Dann fiel plötzlich ein Schleier zwischen die Realität
    – das war meine Kabine, war das Wogen der See – und eine im Zwielicht liegende, Furcht einflößende Welt, aus Tempeln bestehend und eingehüllt in Worte, die Zauber-kraft besaßen! Lange, schmale, wunderbar gebräunte Gesichter. Eine Stimme hauchte: »Hüte dich vor den Priestern des Ra; sie lügen!«
    Ein Schauer überlief mich. Ich schloss die Augen. Die königliche Mutter war gefesselt und an ihren Thron gekettet! Sie weinte! Es war also ihr Weinen gewesen! Unerträglich. »Du siehst doch, sie hat vergessen, wie man herrscht. Tu, was wir sagen!«
    Ich schüttelte mich, um vollends wach zu werden. Ich wollte verstehen und wollte zugleich nicht verstehen. Die Königin in ihren grauenvollen Fesseln weinte. Ich konnte sie nicht deutlich erkennen. Alles war im Fluss. Es herrschte Betriebsamkeit. »Der König ist bei Osiris, musst du wissen. Sieh nur seinen starren Blick. Jeden Einzelnen, dessen Blut du trinkst, übergibst du Osiris; jeder Einzelne wird Osiris.«
    »Aber warum hat die Königin geweint?«
    Nein, das war alles Wahnsinn. Ich konnte nicht zulassen, dass diese Verwirrung die Oberhand über mich gewann. Ich konnte mich nicht in vollem Bewusstsein von der Vernunft abwenden und in diese Fantasien oder Erinnerungen abgleiten, in der Annahme, dass sie in der Wahrheit wurzelten.
    Sie waren bestimmt widersinnig, ein verzerrter Ausdruck von Trauer und Schuld, Schuld deswegen, weil ich mich nicht auf die alte Feuerstelle gestürzt und mir den Dolch in die Brust gestoßen hatte.
    Ich versuchte mir die beruhigende Stimme meines Vaters ins Gedächtnis zurückzurufen, mit der er mir einst erklärt hatte, dass das Blut der Gladiatoren den Durst der toten Seelen, der Manen, stille.
    »Nun, manche sagen, die Toten tränken Blut«, hörte ich meinen Vater aus längst vergangener Zeit bei einem Tischgespräch sagen. »Darum fürchten wir alle diese unglückseligen Tage so sehr, an denen die Toten angeblich wieder auf Erden wandeln können. Ich persönlich glaube, dass das Unsinn ist. Wir sollten unsere Ahnen ehren …«
    »Wo sind die Toten denn, Vater?«, fragte mein Bruder Lucius.
    Wer aber hatte sich auf der anderen Seite des Tisches zu Wort gemeldet und Lukrez zitiert, mit einem traurigen weiblichen Stimmchen, das nichtsdestoweniger alle anwesenden Männer zum Schweigen brachte? Lydia: Was erdgebunden, kehr’ zurück zur Erd’, Doch was vom Himmel kam, heb’ wieder sich Empor und folg’ dem Ruf in heil’ge Höhen, Der Tod zerstört nicht die Materie, Er löst nur der Bestandteile Verknüpfung.

    »Nein«, hatte mein Vater ganz sanft geantwortet. »Zitiere lieber Ovid: ›Die Geister verlangen nur wenig; sie schätzen Frömmigkeit höher als eine kostbare Gabe.‹«
    Er trank von seinem Wein. »Die Geister sind in der Unterwelt, dort können sie uns nicht schaden.«

    Mein ältester Bruder, Antonius, hatte gesagt: »Die Toten sind nichts und nirgends.«
    Daraufhin hatte mein Vater seinen Kelch erhoben. »Auf Rom«, sagte er, und nun zitierte er selbst Lukrez: »›Nur allzu häufig nährt die Religion Verbrechen und Gottlosig-keit.«
    Schulterzucken und Seufzen ringsum. Die römische Haltung. Selbst die Priester und Priesterinnen der Isis hätten mit Lukrez übereingestimmt, als er schrieb: All’ unsere Ängste, unsres Geistes Schwermut, Das Licht der Sonne soll sie nicht zerstreu’n Und auch nicht ihrer hellen Pfeile Strahl, Nur Einsicht in das Wesen der Natur Und ein Konzept methodischer Betrachtung.

    Betrunken? Betäubt von Drogen? Stierblut? Methodisch? Nun, das lief alles auf dasselbe hinaus. Erkenne!
    Drehe und wende die Dichtung, wie du willst. Und der Phallus des Osiris ist für immer lebendig im Nil, und das Wasser des Nils befruchtet die Mutter Ägypten in Ewigkeit, so bringt der Tod Leben hervor, mit dem Segen der Mutter Isis. Nur ein spezielles System und gewisserma-
    ßen eine systematische Betrachtungsweise.
    Das Schiff segelte weiter.
    Noch acht weitere Tage siechte ich in dieser Qual dahin, lag

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