Antonias Wille
wurde sogleich mit einer weiteren Runde Kirschwasser gefeiert. Zwei der Männer rutschten eilfertig auf der Bank zur Seite, um Rosanna in ihre Mitte zu nehmen.
Wie Hunde, die um eine läufige Hündin streifen, fuhr es Simone durch den Kopf. Merkten die alten Dackel denn nicht, wie lächerlich sie sich machten, indem sie um Rosanna herumscharwenzelten? Gleichzeitig musste sie zugeben, dass zudiesem Spiel zwei gehörten. Würde Rosanna nicht so bereitwillig mit den Männern schwatzen und lachen, kämen sie vielleicht erst gar nicht auf diese Idee. Sie, Simone, wurde doch auch in Ruhe gelassen! Aber Rosanna bildete sich ein, dass dieses Verhalten von ihr erwartet wurde â so ein Blödsinn!
Den Kopf voller düsterer Gedanken, stieg Simone die Treppe wieder hinauf.
Sie konnte ihren Ãrger auf Rosanna einfach nicht unterdrücken, im Gegenteil. Als sie sich für die Nacht fertig machte, fiel ihr der vergangene Nachmittag ein: Eine geschlagene Stunde lang hatte Rosanna im Sessel neben einem alten Weib gesessen, hatte deren Hand gehalten und sich ihre Sorgen und Nöte im Allgemeinen und ihre Rückenprobleme im Besonderen angehört. Für jeden hatte Rosanna ein offenes Ohr.
Nur nicht für sie.
Simone konnte sich nicht daran erinnern, wann sich Rosanna das letzte Mal ausschlieÃlich ihr gewidmet hatte. Wenn sie miteinander sprachen, ging es meist um das verflixte Hotel.
Simone hatte Mühe, ihre Haare mit der Bürste zu entwirren, wie jeden Abend war die Prozedur langwierig und schmerzhaft. Während sie vor dem Spiegel saà und ein ausgerissenes Büschel Haare aus ihrer Bürste zupfte, lauschte sie mit einem Ohr in Richtung Treppe und hoffte, möglichst bald die Tür zur benachbarten Kammer zu hören.
Das Hotel, immer und immer wieder das Hotel! Es war das Einzige, wofür Rosanna lebte.
Wenn es doch nie dazu gekommen wäre â¦
Seit der Eröffnung waren viele Jahre vergangen. Dass aus Rosanna und ihr kein Liebespaar geworden war, dass es bei der einen, der einzigen Nacht geblieben war â auch daran hatten die anderen und nicht zuletzt das leidige Hotel Schuld. Simone hatte sich das ganz anders vorgestellt. Aber wie sollte sich Rosanna auf ihre Liebe zu ihr konzentrieren, wenn ständig jemand an ihrem Rockzipfel hing oder etwas von ihr wollte. Simone lebte Tag für Tag mit der Bedrohung, Rosanna würde einen Gastlieber mögen als sie. Dass ihr geliebter Engel den Besuchern gegenüber zwar freundlich und fürsorglich war, aber keinesfalls deren Freundschaft suchte, sondern stets eine professionelle Distanz wahrte, sah sie nicht. Rosannas Verhalten lieferte ihr vielmehr den Beweis dafür, dass sie weiterhin sorgfältig über die geliebte Freundin wachen musste.
Dafür betete, dafür atmete, dafür lebte sie.
Aber es war schwer, ständig ein Auge auf Rosanna zu haben, denn Simone hatte fast nur im Hintergrund zu tun, sie erledigte die Buchhaltung, organisierte die Zimmerverteilung, zahlte die Löhne aus. Das Personal beaufsichtigte sie nicht, dafür hatte Rosanna eine Hotelfachfrau eingestellt, und zwar keine andere als die Tochter von Stanislaus Raatz.
Dass Rosanna damals diese Sieglinde ihr vorgezogen hatte, hatte Simone sehr verletzt. Sicher, eine Respektsperson wie Sieglinde in ihrer blütenweià gestärkten Schürze und mit dem strengen, glatten Knoten im Haar war sie nicht. Aber sie hätte schon gewusst, wie man den Leuten Beine macht! Bei ihr wären die Betten spätestens um zehn Uhr morgens gemacht gewesen und nicht erst gegen elf oder zwölf, wie das unter Sieglindes Aufsicht der Fall war. Aber in diesem Punkt lieà Rosanna nicht mit sich reden.
Gedankenverloren betrachtete sich Simone im Spiegel.
Eine unscheinbare Frau mit sehr hellen Augen und fahlbraunem Haar starrte ihr entgegen. Nachdem vor Jahren die schlimme Akne der Pubertät ausgeheilt war, sah ihr Gesicht zwar nicht mehr aus, als hätten Vögel in einer zu reifen Frucht gepickt, aber eine Schönheit war sie nicht geworden. Zu ihrem nicht ansprechenden ÃuÃeren kam ihre ruppige Art, die die Menschen rasch auf Abstand gehen lieÃ. Das wiederum verunsicherte Simone so sehr, dass sie noch schroffer wurde. In ihrem Innersten wünschte sie sich jedoch nichts mehr, als bei den Gästen beliebt zu sein. Dann hätte sie mit stolzgeschwellter Brust zu Rosanna sagen können: »Schau nur, sie mögen mich
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